Höflichkeit – es gibt sie noch!

Es gibt sie tatsächlich noch: echte, ehrliche Höflichkeit. Allerdings nicht, wo sie am Klettgau-Gymnasium nötig wäre, findet Martin Dühning.

– Ein Kommentar

R

egenwetter ist doch etwas sehr ärgerliches, zumindest für Radfahrer. Das finden auch meine Radfahrer-Kollegen, wobei sich manche mittels Poncho zumindest noch zu helfen wissen. Irgendwann nutzt aber auch der nichts mehr und so bleibt einem denn nichts anderes übrig, als in einen dieser schwitzig-schmierig-klebrigen Busse zu steigen, wo sich schon viele andere verregnete Gestalten aneinanderdrängen – so geschehen auch am letzten Dienstag.

Nach einer Hinfahrt, eingeklemmt zwischen zwei üppigen Damen und mit einer überladenen Schultasche auf dem Schoß, hatte ich den Tag eigentlich schon abgeschrieben. Glücklicherweise ging es dem Apostel Paulus in der folgenden Unterrichtsstunde dann noch schlechter als mir. Schläge und Gefängnis erhielt ich wenigstens nicht, was mich zumindest etwas milder stimmte. Doch einem freiheitsliebendem Radfahrer kommt eine solche Busfahrt bisweilen auch wie unverdienter Strafarrest vor.

Die Aussicht auf eine weithin ebenso bedrückende Rückfahrt versauerte mir sogar den Schulschluss. Das übliche Gedrängel auf der Treppe des E-Baus gab ja schon mal einen Vorgeschmack. Angekommen bei der Station Tiengen-Mitte bestätigten sich zunächst auch die schlimmsten Befürchtungen: Massen von wartenden Omnibusnutzern, größtenteils natürlich mitten in den Flegeljahren und durch beständigen Nieselregen pladdermäßig vorgewässert. Na, das würde ja wieder feucht-fröhlich werden! Ein freundlicher Busfahrer hielt zwar direkt vor meiner Nase, doch was nutzt dies, wenn eine Masse von 50 Personen einen sofort unsanft beiseite schiebt. Finsterer Gedanke: Ob mein Regenschirm wohl als Prügel taugt? …

Dann allerdings geschieht tatsächlich etwas unerwartetes: Beim Einsteigen belegen zwar die meisten Jugendlichen gleich wieder alle vorhandenen Plätze, doch drei Burschen im kritischen Alter von 15 Jahren bieten dem Viertklässler vor mir doch tatsächlich einen freien Sitzplatz an. Dieser, in Betrachtung der fremdländischen Gesichter, lehnt ab und sucht das Weite. Gefasst auf das Schlimmste wäge ich ab, ob es bequemer sei, mit Taschen und Heftstapeln beladen stehend die schlimmsten Kreisverkehrkurven zu überstehen, oder ob ich, auf die Gefahr hin, angepöbelt zu werden, einfach den vorhandenen Platz requiriere. Doch man kommt mir zuvor: Höflich bieten mir die drei den Platz an: „Hier ist noch Platz, wenn Sie sich setzen möchten?“

Und sie meinten es wirklich ehrlich. Ich war baff – vielleicht eine Falle? Irgendwo musste da ein Haken sein! Doch es gab keinen – sie wandten sich schnell wieder ihren persönlichen Gesprächen zu, die zeigten, dass es sich nicht um Gespenster, sondern um ganz gewöhnliche Hauptschüler handelte. Sie besprachen Probleme mit einer anderen Gang, mögliche Wochendplanungen und Probleme in ihrer Schule und beachteten mich gar nicht mehr.

Konnte das wahr sein? Allen meinen Erfahrungen nach ist Freundlichkeit und Taktgefühl nichts, womit der liebe Herrgott die Neunt- und Zehntklässler sonderlich gesegnet hat – zumindest nicht die am Klettgau-Gymnasium. Offensichtlich geht es aber auch anders. Typisch lehrermäßig verfalle ich in tiefe Euphorie: Ein Wunder! Drei herzensgute Menschen! Irgendwie müsste man diesen drei jungen Burschen doch eine Belohnung zukommen lassen! Fast habe ich schon die Brieftasche gezogen, als mir klar wird, dass es für diese drei keine Besonderheit ist, höflich zu sein, sondern einfach ganz normal. Eine Belohnung hätte sie eher verwundert oder sogar beleidigt. Die drei waren höflich, weil sie es so gewohnt waren. Nichts weiter. Man verhält sich anderen gegenüber eben taktvoll – deshalb erwarteten sie es bestimmt auch von anderen. Hatte ich ihnen eigentlich gedankt nach ihrem Angebot? Es ist mir peinlich, aber ich weiß es nicht mehr…

Als die drei in Unterlauchringen ausstiegen, hatten sie die Sache wahrscheinlich schon wieder vergessen. Mir ist es aber in Erinnerung geblieben, denn mir wurde klar: Es gibt also doch noch höfliche Jugendliche! Das war mein erster Gedanke, mein zweiter: Die Höflichkeit in den Hallen des KGT hat doch stark nachgelassen in letzter Zeit. Richtig echte Höflichkeit, meine ich. Nicht die abwägende, schleimerische Höflichkeit, die insgeheim irgendeine Gegenleistung erwartet dafür, dass man jemandem auf der Treppe Platz macht oder die Tür aufhält (was selten genug vorkommt). Auch keine übertriebene Höflichtuerei – sondern die Höflichkeit, die einfach Gewohnheit ist, die man ohne groß nachzudenken praktiziert, eine, die man einfach so mitlebt im Alltag. Sie fehlt am KGT, stattdessen hat sich bei vielen – Schülern wie Lehrern, ein egoistischer Stolz breit gemacht, der es nicht nötig zu haben scheint, auf andere Rücksicht zu nehmen. Man glaubt, zuerst seine eigenen Rechte zu haben. Höflichkeit wird entweder als Pingeligkeit, als veraltete Mode oder als lästige Zwangsverpflichtung angesehen. Versuche von Lehrkräften, Höflichkeit in Regelwust zu gießen, haben diese Situation nicht gerade verbessert. Im Gegenteil: wie das Regelbrechen ist nun auch die Taktlosigkeit zum Volkssport oder zur „Mutprobe“ geworden.

Umgekehrt verwechseln manche Leute inzwischen Schleimerei mit Taktgefühl: Widerworte werden sofort als Angriff gewertet und als mangelnde Höflichkeit. Aufrichtigkeit und Diskussionen werden also durch schweigende Fassade ersetzt. Das gibt ehrlicher Höflichkeit dann den Rest: Höflichsein heißt für viele nicht mehr, als den bloßen Anschein von Wohlwollen zu wahren und lediglich nicht direkt übereinander herzufallen. So diszipliniert ist man in der Öffentlichkeit dann doch noch. Meistens jedenfalls. Direkte Folgen hat das keine, außer, dass die Stimmung beständig sinkt. Misslaunigkeit und Pessimismus: Manche Schüler, manche Klassen, auch manche Lehrer gefallen sich sogar darin. Es wird ja sowieso nie mehr besser. Nach uns die Sintflut…

Leiden müssen darunter dann die, die ohnehin nichts zu lachen haben: Die jeweils sozial schwächsten. Das können Schüler sein, oder das Reinigungspersonal, vorübergehend vielleicht sogar Lehrkräfte. Die Arroganz mancher Hochnasen wird nur noch durch ihre damit oft korrelierende Unfähigkeit überboten. Dies meine ich nicht nur in kognitiver Hinsicht – ich würde sogar noch weiter gehen: Ich bin überzeugt davon, dass viele Rüpel nicht absichtlich unhöflich sind, sondern noch schlimmer: dass sie nicht einmal im Stande wären zu ehrlich gemeinter Menschenfreundlichkeit. Ja einige können noch nicht mal heucheln, denn auch dazu braucht es ja (schauspielerisches) Talent. Was bleibt ihnen also anderes übrig, als Klotz zu sein und sich darin zu gefallen. Wenn genug andere mitmachen, fällt das ja auch gar nicht mehr auf. Dann wird es traurige Normalität. Glücklicherweise gibt es immer noch einen heiligen Rest Idealisten, der dagegen ankämpft.

Anderorts, unabhängig davon, wie die Zukunftsaussichten stehen und wie man gemeinhin über ihre Qualifikation und Kompetenzen denkt, wird aber Höflichkeit einfach praktiziert. Das gibt mir doch noch Hoffnung. Insgeheim hoffe ich doch, dass sich die einfache Höflichkeit der drei Hauptschüler aus dem Bus noch irgendwann für sie bezahlt macht. Genauso übrigens, dass auch am KGT die Rechnung am Schluss dann jeweils stimmen wird.

Über Martin Dühning 1507 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.