Lange Zeit ist es still gewesen um den allseits begabten Schriftsteller, Bonsaizüchter und Kampfsportler Hiro Kamakiri, seit dem Jahr 2005 war er faktisch wie vom Erdboden verschluckt. Ganz so war es nicht, sondern schlimmer: Er wurde von skrupellosen Feinden entführt! Durch streng geheime Recherchen konnte Anastratin seinen Aufenthaltsort herausfinden und ihn durch nitramische Spezialeinheiten befreien lassen. Wir werden darüber noch ausführlicher berichten.
Aus Dankbarkeit stellt uns der Schriftsteller sofort alle seine Werke zur Veröffentlichung in unserer Zeitschrift zur Verfügung. Wir starten hier mit seinem zwölfteiligen Fortsetzungsroman „Das Pferd in der Stille“.
Das Pferd in der Stille,
Teil 1: Ein mysteriöser Morgen
s war ein mysteriöser Morgen, als alles begann. Einer Lotusblüte gleich, rot und schicksalsschwer,entfaltete die Sonne ihren Strahlenkranz über den östlichen Sümpfen der Stadt Origama und erleuchtete dumpf einen aprikosenfarbenen, noch halb verschlafenen Himmel. Hirtenkinder spielten unschuldig auf den Weiden und in der Stadt bereiteten sich die ersten fleißigen Händler auf einen neuen Arbeitstag vor.
Tashi Yugisushi, Sohn von Tashi Witowashi, Enkel des legendären Tashi Dushidashi, des einstigen Lords der Südstadt und Hüters der drei heiligen Quellen von Origama (in welchen jener später auch auf mysteriöse Weise umgekommen war), erwachte. Wie seit Vätersväter Zeiten Sitte, begann er den Tag fast intuitiv mit dem traditionellen Murmeln, Brummen und Aufsagen von Verwünschungen sowie dem Wissen darum, dass Saki ein ganz heimtückisches Getränk sein kann.
In einer anderen Familie hätte sich Yugisushi als Adelszögling nun Moralreden des Familienvaters anhören müssen und sich darüber belehren lassen, dass ein fünfzehnjähriger Jungadliger sich vor Beginn der zweiten Nachtwache im Vaterhaus und dort im Bett zu befinden habe (und überhaupt und sowieso …), aber in Yugisushis Sippe lebten die meisten Männer nicht lange genug, um ihre Söhne noch belehren zu können. Schuld war der mysteriöse Familienfluch…
Beim Frühstück geschah zunächst nichts außergewöhnliches. Seine Mutter, eine noch erstaunlich gut erhaltene Frau von etwa vierzig Jahren, trank genüsslich eine Schale Tee, den sie sich von der Hausdienerin hatte aufbrühen lassen. „Yugi, du siehst müde aus“, begann sie wie immer die Konversation. „Sag an, wie steht es mit deinen Studien? Ist es nicht längst an der Zeit, dass Meister Weng einmal wieder eine Prüfung vornimmt?“ Yugi lief es eiskalt den Rücken herunter. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Gerade heute wollte Weng, der alte, hinterhältige Schulmeister, eine längere Geschichtsabfrage vornehmen. Wie er sein Glück kannte, würde es wieder ihn treffen. Yugisushi fröstelte bei dem Gedanken. Nur zu leicht konnten Wengs Exerzitien in ein Spiel der Schatten ausarten. Ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit und er beschloss, am besten gleich ganz krank zu werden. Seine Mutter schien dies zu erraten und bohrte nach: „Yugi, ich mache mir Sorgen um dich.Tagsüber gibst du dich diesen billigen Kartenspielen hin, nachts hängst du mit fragwürdigen Kumpanen in der Taverne herum. Das wird deiner Ausbildung nicht gut tun – und du weißt, dass in deinen Händen bald das Geschick unserer ganzen Sippe liegen wird…“
„Mama“, räusperte sich Yugisushi und rutschte auf dem Sitzkissen unruhig hin und her – „Nichts da, Yugilein, du wirst heute die Lehrstunden besuchen, außerdem werde ich in den nächsten Wochen deine Lernerfolge persönlich überprüfen…“ –
Nein! ‚Yugilein‘ hasste solche Tage, die wenig verheißungsvoll begannen und sich meist noch weniger vielversprechend fortsetzten. Oft war er dann nahe daran, sich den nächstbesten Strohhut zu schnappen, aufs blaue Meer hinaus zu segeln und Pirat zu werden. Leider lag Origima aber nicht am Meer, sondern nur an einem Fischweiher.
Ein Wink des Schicksals in Form eines Boten rettete Yugisushi diesmal vor weiteren erzieherischen Torturen. Der Mann war von hagerer Statur, wirkte leicht nervös und war in ein wallendes, hellgelbes Gewand gekleidet, was ihn untrüglich als Dienstboten der Kanari auswies. Die Kanari waren der bedeutendste Klan von Origama, so unterstand ihnen beispielsweise auch das kaiserliche Postmonopol. Man sagte den Kanari allerdings auch nach, dass die meisten Mitglieder dieser Sippe leicht seltsam waren oder sogar ganz offensichtlich einen Vogel hatten.
Wie sich schnell herausstellte, kündigte der Bote neues Unheil an, diesmal allerdings für Yugis Mutter, denn er teilte den Besuch von Tante Kiri mit. Kiri war die ungeliebte ältere Schwester seiner Mutter Usfal. Kiri hatte das Feingefühl eines Hundedämons, war zudem arrogant und hatte einen äußerst ausgeprägten Putzfimmel. Zwar war sie nur eine angeheiratete Kanari, denn wie Yugis Mutter stammte sie aus dem unbedeutenden Hara-Klan, dennoch war Kiri sehr einflussreich und diesen Einfluss ließ sie jeden spüren, der ihr in die Quere kam, besonders ihre näheren Anverwandten.
Seine Mutter war über diesen schweren Schlag am frühen Morgen so schockiert, dass Yugi sich problemlos davonmachen konnte. Doch zur Schule würde er nicht gehen. Hinter einer Ecke wartete nämlich schon Dragun auf ihn…
– Fortsetzung folgt …
Erstveröffentlicht in der Schülerzeitung Phoenix, Nr. 45 (2004)