Das Pferd in der Stille, Teil 2

Teil 2 des spannenden Fortsetzungsromans von Hiro Kamakiri …

E

s war ein mysteriöser Morgen gewesen, als alles begonnen hatte. Einer Lotusblüte gleich, rot und schicksalsschwer, hatte die Sonne ihren Strahlenkranz über den östlichen Sümpfen der Stadt Origama entfaltet und dumpf einen aprikosenfarbenen, noch halb verschlafenen Himmel erleuchtet. Hirtenkinder hatten unschuldig auf den Weiden gespielt, in der Stadt bereiteten sich immer noch die ersten fleißigen Metzger auf einen neuen Arbeitstag vor und einige Blades-Verkäufer öffneten ganz verschlafen ihre Läden.

Unser junger Held, Tashi Yugisushi, Sohn von Tashi Witowashi, Enkel des legendären Tashi Dushidashi, machte sich gerade missmutig auf den Weg zu Meister Wengs Schule. Nach einem wenig erquicklichen Privatfrühstück mit seiner Frau Mutter und der Aussicht auf einige fiese Prüfungen durch den alten Lehrmeister machte sich Yugi keinerlei große Hoffnungen für diesen Tag à und doch: Hätte er geahnt, welch Grauen und welche Katastrophen ihn an diesem Tag noch erwarten würden, er hätte sich bestimmt sofort vom nächstbesten Duellturm der Kaiba-Corporation gestürzt. Denn eine dunkle Macht war am Werk, schlimmer noch als Meister Weng, ja schlimmer sogar als Dragun, der schon hinter der nächsten Ecke auf ihn lauerte, viel schlimmer…

Währenddessen bereitete sich auch Yugis Mutter Hara Usfal auf das personifizierte Grauen vor. Katastrophaler noch als eine misslungene Dauerwelle kam es ihr vor, was sie heute erwarten würde, und nur mit Mühe hatte sie beim Frühstück vor ihrem Sohn die aufsteigende Übelkeit verbergen können. Denn es gab nur wenige Dinge, die furchtbarer waren als ihre große Schwester Hara Kiri. Und diese würde sie heute unweigerlich ertragen müssen. (Was Usfal allerdings nicht wusste, war, dass auch die furchtbareren Dinge heute noch geschehen würden.)

Um das Schlimmste zu verhindern, musste zunächst das Domizil in Ordnung gebracht werden. Der Wohnraum war kein Problem, da man den großen alten Erbteppich recht unkompliziert mit allem darauf zusammenrollen und in die Mülltonne verfrachten konnte, bis die Schwester wieder weg war. Für das Schlafzimmer und das Bad hatten sich schon früher Staubsauger und Gartenhexler als eine unschlagbare Kombination erwiesen. Probleme bereitete aber immer wieder die Küche, da einige Dinge darin sich einem unmittelbaren Zugriff geschickt entzogen. Daher beschloss sie, wieder Miroke zu beauftragen, die Küche zu säubern. Miroke, das war der attraktive junge Mann von nebenan, etwa 20 Jahre, ozeanblaue Augen, mittsommerschwarze Locken, 1,86 m, schlank, unverheiratet und eigentlich Kammerjäger von Beruf, als solcher zur Zeit aber arbeitslos. Nebenbei gab er daher auch Nachhilfe in Mathe (bevorzugt jungen Mädchen), errechnete Horoskope (bevorzugt für junge Mädchen) und betätigte sich bisweilen auch als Heilpraktiker, der ungünstige elektromagnetische Spannungen und kosmische Wellungen in der Wohnung gekonnt behob durch eine gezielte Heilbehandlung bevorzugt betroffener Stellen (junge Mädchen) …

Usfal machte sich zwar wenig Hoffnungen, dass Miroke mit seinen esoterischen Spielereien ernstlich etwas gegen die ungebetenen Gäste in ihrem Müslischrank ausrichten konnte, aber sie fand ihn irgendwie recht charmant, charmanter jedenfalls als den Müslischrank und dessen Insassen. Ja, insgeheim hatte sie sogar ein recht aufregend-intimes Verhältnis zu dem jungen Mann entwickelt à naja, zumindest hätte sie das so gerne gehabt … – Doch Usfal hatte hier schon wieder Pech, denn sie fand an Mirokes Wohnungstür nur einen sorgsam festgenagelten amtlichen Papierzettel vor. Wie der auswies, war Miroke aus ungenannten Gründen für längere Zeit zu einer Gardinenausstellung nach Schweden aufgebrochen. Usfal seufzte enttäuscht, grummelte eine halbe Stunde lang missmutig vor sich hin und dachte sich dann zur Entschädigung ein paar besonders hinterhältige Strafarbeiten für ihren Sohn aus. Um genug Vorwände dafür zu finden, durchsuchte sie Yugis Zimmer oberflächlich und brauchte auch nicht lange, um genug Anlässe für drei Wochen Hausarrest beisammen zu haben. Besonders einige von Yugis Tagebucheinträgen über sie hätten sogar für mehrere Monate gereicht, aber das hätte Yugis Mutter in Zukunft gewiss um ihre allmorgentliche Lektüre gebracht, und es gab ja sonst nicht viel zum Lachen in ihrem Leben.

Währenddessen, an einem ganz anderen Ort in der Stadt, breitete sich ein Schatten aus. Passanten, die Zeuge dieses Ereignisses waren, beispielsweise Akihiro Mitsumoto, der alte Zeitungsverkäufer am Hafen, bestanden später darauf, irgendwie GEFÜHLT zu haben, dass sich etwas GROßES BÖSES genähert habe, auch, wenn sie damals nichts erkennen konnten. In der Tat hätte man damals viel von dem Unheil vermeiden können, hätte man es nur vorher gewusst und genauer hingesehen (man kennt das ja von Grammatiktests). Aber das Unheil, das sich der Stadt Origama an diesem Morgen näherte, kam von weit her. Es schlich sich à wie so oft à ganz unscheinbar und harmlos an, aber nachhaltig giftig, und niemand, der ihm danach zum Opfer fiel, am allerwenigsten Tante Kiri, hatte vorher erwartet, dass es sie als nächstes treffen würde. Doch dann, als es geschah, war es schlichtweg GRAUENHAFT …

– Fortsetzung folgt –

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.