Norden, nördlicher, Kap. 3

Teil drei des Reiseberichtes: Mittwoch, 13.08.08

Mit zu wenig Schlaf kommt wenig Freude auf, darum fühlte ich mich am gesamten Mittwoch recht elend, wobei auch das miese Wetter und meine Fußverletzung kräftig mithalfen. Während sich meine Füße nur ziemlich bedenklich anfühlten vom vielen Laufen – ein Königreich für ein Fahrrad! – war das Wetter katastrophal. Mehrmals kamen wir in heftige Schauer und wurden ganz verregnet. Dabei hatte der Wetterbericht ganz anderes versprochen gehabt für den Inseltag!


Auf dem Programm stand heute die Norderney, „Nordens neue Insel“. Um sie zu besuchen begaben wir uns zunächst zum Marktplatz in Norden, wo wir bei der Kurverwaltung eine leicht vergünstigte Tageskarte für die Fahrgesellschaft kauften. (Die Kurtaxe für Norderney war inklusive, damit hätte man bestimmt noch manch andere hübsche Sachen anstellen können, wäre der Tag ein anderer gewesen.) Danach fuhren wir per Bus zur Mole, wo wir in eine der Frisia-Fähren stiegen, die aber schon ziemlich mit Touris überfüllt war. Mein Bruder wollte unbedingt auf das Promenadendeck, mir jedoch war das zu zugig und etwas zu weit oben, mir wurde schon von der Treppe ganz schwindelig.

Da das Mitteldeck schon mit lauter Gestalten überrannt war, zog ich mich auf das Unterdeck zurück, wo man durch die Bullaugen nicht viel sehen konnte außer dem einen oder anderen Brecher. Doch die Sitze waren dort gepolstert und sehr bequem. Eine Gruppe von munteren Italienern setzte sich um mich herum, „kesselte“ mich ein, wie ihre Reiseleiterin es selbst nannte, begannen gleich heiter zu schwadronieren, was mich nicht weiter störte, da ich ihre Sprache ja nicht verstand. So konzentrierte ich mich darauf, nicht gleich einzuschlafen, was schwer war, da die Fähre zunehmend ins Schaukeln geriet wie eine Wiege. Doch nach 50 Minuten war die Überfahrt überstanden, auch wenn ich nun seehundemüde war und meine drei Frühstückskaffeetassen gänzlich ihre Wirkung verloren hatten.

Mit weiterhin schmerzenden Füßen schritt ich später über die Promenade von Norderney-Stadt, mein Bruder versuchte mich mit Worten aufzuheitern, was ihm allerdings nicht so recht gelang. In einem billigen Fischrestaurant servierte uns ein jugendlicher Kellner das Mittagessen. Leider muss ich sagen, dass ich in den Restaurants an der Nordseeküste enttäuscht wurde. Hier nahm ich ein Schollenfilet mit preußischem Kartoffelsalat zu mir, doch zuhause mit geeigneter Küche hätte ich beides sicherlich wesentlich besser hingekriegt. Am Vortag war ich schon herbe vom Seelachs enttäuscht gewesen. Die Unsitte, allen Fisch zu panieren, kann ich wirklich nicht nachvollziehen, zumal wenn er danach auch noch fritiert wird. Abgesehen davon, dass das Endergebnis viel zu fett ist, geht dabei jeglicher Individualgeschmack verloren. Doch wir waren wohl einfach in den falschen Restaurants – am letzten Tag fand mein Bruder noch ein besseres, doch da war mein Magen dann schon hinüber.

Nach dem Essen schritten wir am Nordstrand entlang und wollten Richtung Oststrand, teils aber, weil der jugendliche Kellner uns Seemannsgarn von bevorstehenden Stürmen aufgetischt hatte – es sei bereits eine Sturmwarnung ausgegeben worden und der Fährbetrieb würde gleich eingestellt – als Südlichter wussten wir nicht so recht, was wir davon zu halten hatten, teils auch, weil meine Füße auf der steinernen Uferbefestigung zunehmend nachgaben, kamen wir nicht sehr weit.

So machten wir beim Nordbad etwa in Höhe des Denkmals Stopp  und logierten zunächst auf dem Wellenbrecher, wo ich mein Handtuch ausbreitete und etwas zu ruhen versuchte. Da mein Bruder wohl ein schlechtes Gewissen hatte wegen der durchsägten Nacht, mietete er einen Strandkorb an, es war die Nr. 70. So kam ich doch noch zu einem Augenblick Strandurlaub am Meer. Zum Baden war es jedoch viel zu kalt und hinter uns braute sich ein grausliges Schauerwetter zusammen.

Nach einer halben Stunde Strandkorbidyll ergriffen wir deshalb die Flucht, kamen schon auf den Dünen dennoch in einen gräulichen Graupelschauer, der uns zerzauste und einweichte. Wir verzichteten auf die weiße Düne, Aussichtsplattform und Leuchtturm, triefend begaben wir uns dann zurück in Richtung Mole. Das war auch besser so, denn auf dem Rückweg musste ich meine Schuhe ausziehen, weil es mit einfach nicht mehr ging. Also versuchte ich es zunächst barfuß, dann in den neuen Sandalen, was so halbwegs klappte. Ich muss aber dennoch ziemlich verwüstet ausgesehen haben, was mir viele mitleidige Blicke verschaffte. Weil wir die nächste Fähre lahmenderweise verpasst hatten, warteten wir im Hafenrestaurant, wo mich ein großer Milchkaffee davor bewahrte, an Ort und Stelle einzunicken.

In der Fähre dann, die wiederum überfüllt war, diesmal aber wohl auch größer als die erste, trennte ich mich wiederum von meinem Bruder und fand nun auch im Bordrestaurant einen Platz. Dort bestellte ich spontan eine große Tasse heiße Schokolade, die ich dann 10 Minuten lang genüsslich nippte. Es war eine gute Idee gewesen, Schokolade hat etwas besonderes an sich, vielleicht sogar magisches. Ich erinnere mich, dass ich schon als Kind vor vielen, vielen Jahren heiße Schokolade auf einem Schiff getrunken hatte, doch es war auf dem Schwabenmeer und zusammen mit meinen Großeltern, bei einer Rundfahrt Richtung Bregenz. Das war auch sehr schön gewesen – und mit der Schokolade und den Erinnerungen gewann ich neue Kraft.

Die Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden könne, habe ich im alten KGT-Gästebuch vor einiger Zeit mal in einem Beitrag eines Abiturienten gelesen – nun, das stimmt nicht ganz, auch Erinnerungen können verloren gehen. Das wurde mir klar, als ich während meines Studiums neben einer Alzheimerpatientin lebte. Insofern liegt Jean Paul leider ziemlich falsch. Symptomatischerweise ging auch kurz darauf der Gästebucheintrag verloren – das war kurz vor dem Webmasterwechsel. Um schlimmeres zu verhindern, habe ich das KGT-Gästebuch dann auch gleich durch ein neues ersetzt, in der Hoffnung, damit zumindest das digitale Alzheimer besiegt zu haben.

Erinnerungen wertschätze ich sehr, obwohl sie wie gesagt nicht ewig sind. Aber immerhin können Erinnerungen und Assoziationen einen Menschen über manchen Misserfolg hinwegtrösten, außerdem lassen sie Verbindungen knüpfen und sie zeigen Wege auf, die richtig eingeschlagen, immerhin dazu führen können, dass man dem Paradies wieder etwas näher kommt, statt sich noch weiter davon zu entfernen. Dabei ist es unerheblich, ob die Erinnerungen positiv oder negativ behaftet sind, denn man kann ja auch aus Fehlern lernen. Wichtig ist nur, Erinnerungen überhaupt zu haben.

Während sich die Fähre durch ein aufgewühltes, mal an Spülwasser, mal an blinkende Alufolie erinnerndes Meer schob, belauschte ich  die Gespräche am Nachbartisch, eine Gruppe wohl aus Hinterzarten im Schwarzwald. Sie sahen aus, als seien sie direkt aus einer Episode der Schwarzwald-Soap „Die Fallers“ entsprungen. Es muss aber eine fortgeschrittene Staffel gewesen sein, denn sie sahen schon recht alt aus, wenngleich sie recht munter waren. Irgendwie waren sehr viele zerzauste Gestalten an Bord, sodass ich mich dort mit Recht heimisch fühlen konnte.

Gegen Ende der Fahrt entschied ich mich zu früh, meinen bequemen Platz zu verlassen und stellte mich in einer langen Schlange mit quengelnden Kindern sowie entnervten Eltern. Die Kinder waren sichtlich übermüdet und auf Destruktion aus, die Eltern rigoros. Gelegenheit, das auszukosten, gab es lange, denn das andocken klappte nicht so ganz, die Fähre brauchte dazu ganze zehn Minuten, es gab viel Schelte und viele kleine, quiekige Tränen flossen dabei.

Doch irgendwie gelang es dann doch noch und ich kam raus. Die Rückfahrt im Bus verlief auch ohne Komplikationen, das Wetter besserte sich wieder in schönsten Sonnenschein – als hätte es die Regenschauer davor nicht gegeben – und ich beschloss, den nächsten Ausflug auf den Nachmittag zu schieben, da das Wetter am Vormittag bislang immer unzuverlässig gewesen war.

Während mein Bruder abends nochmal ausging, blieb ich zuhause, litt in Ruhe an meinen Füßen und holte etwas Schlaf nach.

Über Martin Dühning 1507 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.

1 Kommentar

  1. Hier fällt mir ein Songtext-Bruchteil von Gerhard Gundermann ein („spricht der Teufel“):

    „Sieh nach vorne spricht der Teufel,
    denn da vorne ist das Licht.
    Streicht mein Dörfchen von der Karte,
    nur aus meiner Seele nicht.
    An den Wiesen meiner Kindheit scheitert sein Radiergummi,
    solang das Geld für einen Weißwein reicht,
    solang erreich ich sie.
    […] „

Kommentare sind deaktiviert.