Grüße von der Lavendelfee

Während draußen der Wintereinbruch und die große, dunkle Kälte alle süßen Träume von einem nahen Frühling oder gar einer Rückkehr ruhiger, lauer Augustabende zunichte macht, stelle ich mir, in Angesicht einiger Kastanien und Anwesenheit tröstlicher Elisenlebkuchen, die Frage, warum das eigentlich sein muss.

Draußen am Fenster winken ängstlich die letzten Wicken, rosa und lilafarben und eine tieforange, allerletzte Kapuzinerkressenblüte neigt sich schwer ahnend dem Blumentopfboden entgegen. Ihre Zeit ist um. Aber warum, warum? …Die Antwort kommt mir erst auf dem launigen Rückweg einer letzten aber sehr kalten winterlichen Radfahrt:

Es sind die Zeiten des Wandels, die uns berühren, wenn das Gewohnte zu Ende geht, wenn sich alles verändert und uns klar wird, dass nichts ewig ist und alles um uns herum ganz anders.

Allerdings: Neben diesen Wandelzeiten gibt es durchaus auch Phasen der Stabilität. Ende August beispielsweise, wenn der Sommer endgültig unendlich scheinen will und man sich gar nicht so recht klar darüber werden kann, dass vier Monate später wieder Weihnachten ist. Aber auch der Winter daselbst, vor allem, wenn er schon im November einbricht und dann bis Februar Hausgast bleibt, hat seine Art der Kontinuität: Lange, graue Tage, ein endloser Nebelflor, unterbrochen nur von kalten, hellen Windungen, wenn klirrende Luft weht unter einer eisgelben Sonne, weißsalzige Schlieren die Straßen zieren und Schneefetzen den Wegrand wie sonst Grasbüschel und Blümchen. Die Pflanzen sind wie aus der Welt geschafft, graubraune Äste die einzige Zierde in der Landschaft, Äcker und Rasen beige und die Grashalme verdorrt. Die Menschen, tief vermumt, doch nicht ungastlich, feiern gemeinsam Feste und kommen sich wärmend immer näher, wenn schon die Welt drumherum so kalt ist. Man sitzt dichter beieinander, trägt Strickpullis mit Kragen, Schals und Handschuhe – Wollmützenzeit.

Seltsam, aber wenn man im Sommer so frisch, locker und unverhüllt durch die grüne Welt schreitet, sich in luftiger Kleidung ausdehnt mitsamt der Landschaft drumherum, wenn alles so blau, grün, rot, gelb – bunt eben und grenzenlos wirkt, dann erscheinen einem die muffligen Pelzmäntel im Schrank so absonderlich wie Strohpuppen aus einer utopischen, fremden Welt, dann hat man die große Kältephase vergessen.

Und genauso vergisst man im Winter den Sommer. Darum leidet man im Herbst, wenn der Sommer so erbärmlich dahinschwindet, unter dem falschen Farbentaumel dahinsiecht, aber im Winter nicht mehr. Darum bestaunt man überhaupt den vergleichsweise spröden Vorfrühling mit seinen mickerigen Blümchen, diesen drolligen, winzigen Schneeglöckchen oder die zwergenhaften Primeln, die doch im Sommer nichts wären gegen die duftumnebelnden, üppigen Rosenbüsche, die königlich wuchernden Malven und die allgegenwärtigen, feuertupfigen Wiesenblüten.

Überhaupt: Wer käme im pflanzenreichen Sommer auf die absurde Idee, sich so ein ungastlich stachliges Gestrüpp von Konifere in sein Haus zu wünschen, welches uns aber doch im Winter so herzlich und gemütlich erscheint, dass man es als Baum des Lebens besingt und gar in göttliche Ehren stellt, direkt neben den christlichen Heiland. Sooo grün ist er ja nun auch nicht, der Tannenbaum, und Blätter hat er eigentlich auch keine.

Doch der Winter macht halt bescheiden, man wird mit der Zeit immer genügsamer, wenn das letzte lebendige Blättchen im Garten verwelkt ist: Schneeflöckchen finden wir dann flauschig und herzerweckend, Eiszapfenglitzer machen uns reichlich juwelierend, jeder einzelne Sonnenstrahl ist für uns ein Geschenk zum Jubeln. Ja sogar kleine Kerzlein auf Tannengestrüpp machen uns selig, vier Stück reichen da schon, dann feiern wir gleich ein großes Fest. Im hellen Juli mit all seinem Sonnenlicht würden diese Lichtlein keinen müden Siebenschläfer erwecken, aber im dunklen Dezember kann sich dem niemand entziehn. Man wird da eben hellsichtig im Dunkeln.

Eben drum: Demut und Bescheidenheit sind nützlich, deshalb wurde der Winter vielleicht erschaffen. Aber nicht nur deswegen, denn wenn die große Dunkelheit kommt, leuchten nicht nur Kerzlein, sondern auch der kleine Geist heller, insbesondere die Lust zur Kreativität, während die Junihitze eher ermattet. So wird die Leere zur Mutter neuer Schöpfungen.

Schnee beispielsweise ist ja durchaus etwas hübsches, aber große weiße Flächen reizen immer, ausgemalt zu werden. Wenn’s denn kein Schneemann sein soll, weil der eigene Sommer noch immer unvergessen ist und die Sehnsucht nach all den Blumen, die im November schon mancher vergeblich gesucht hat, sogar die Baumgeister aufweckt, warum dann nicht einfach einen Frühling erträumen? Einen Sommernachtstraum selbst erschaffen? Malen? Dichten? Komponieren gegen die Finsternis?

Wenn einem das selbst zuviel wird, könnte man auch einen Assistenten erfinden und nachdem das hier mit Elfen und Kobolden so grandios fehlgeschlagen ist – warum nicht mal eine Lavendelfee erschaffen. Gesagt, getan, und hier ist sie:

Ob sie Frühlingswiesen herzaubern kann und damit die übermächtige Realität des Winters besiegen? Ich weiß nicht, aber der Lavendel beruhigt ja wenigstens die Nerven. Nun ja, mal sehen, ob es mit der zugehörigen Landschaft dann auch noch klappt, dunkel ist es ja genug, damit auch kleinsten Ideen leuchten. Na, man wird sehen…

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.