Gezwitscher und hohles Geschwätz

Gottlob sind die schlimmsten Befürchtungen aus dem letzten Jahrhundert ausgeblieben und es gibt noch so etwas wie eine Lesekultur, auch, wenn sich diese zunehmend ins Internet verlagert und es mit deren Ökonomie wie Tragweite so eine Sache ist. Populärer ist ja anderes. Weiß man aber zu lesen, so findet man bei den großen Zeitungsportalen beispielsweise oft noch sehr lesenswerte Feuilletons und Kommentare, unter anderen den von Sebastian Beck mit dem Titel „Die Stunde der Sterndeuter“.

Mangels Fakten im Falle des Amoklaufs von Winnenden, so die Essenz seines Kommentars, habe die große Stunde der -ologen diverser Fachrichtungen geschlagen. Erklärungen seien gefragt, ihr Wahrheitsgehalt dagegen zweitrangig. Tatsächlich kann man an kaum einem anderen aktuellen Beispiel derzeit so gut beobachten, wie Fakten und Spekulationen in einen Topf geworfen werden. Da ist sehr viel Betroffenheit, aber wenig an Essenz, viel an Sinnerklärungen, doch oft wenig Wahrheit dahinter.

Sicherlich hat daran einen großen Anteil das Internet, Gerüchteküchen und Spontanbetroffenheitsmaschinen wie Foren und Microblogs, die je nach Altersgruppe sogar dem Fernsehen längst den Rang abgelaufen haben. In ihnen hatte Geschwindigkeit und Gefühlsstärke immer schon oberste Priorität – und gerade beim aktuellen Fall mögen sie sicherlich viel beigetragen haben zur Gefühlspräsens des Ereignisses, besonders aber zu diversen Undurchsichtigkeiten. Seit eh und je gibt es dort kaum Unterscheidung zwischen persönlicher Meinung und objektiver Wahrheit. Schließlich lässt sich virtuell alles fälschen, nur man selbst scheint, wer man zu sein glaubt. Was überwiegt, ist Meinung, im Plural: Meinungsmache.

Blickt man allerdings in die traditionelleren Medien, und hier setzt auch Becks Kritik an, sieht es keinesfalls besser aus. Selbst in gemäßigteren Nachrichtenredaktionen, die nicht einfach aus dem Internet abschreiben, mussten schnell Infos her. Die Lösung heißt hier dann: „Experteninterview“. Kaum war der letzte Schuss gefallen, überbot man sich schon mit Lösungen und eindimensionalen Antworten auf existentielle Fragen, die oft doch keine Antwort haben. Selbsternannte oder fremdbestimmte Experten wurden befragt, als wäre eine Masse von Interviews Garant für die Lösung aller Probleme. Noch bevor überhaupt irgendetwas über das Privatleben des Täters bekannt war, wusste man gleich Begründungen und Komplettlösungen: Härtere Waffengesetze, Internetwarnsysteme und das in konservativeren Kreisen hochgeschätzte, weil medienwirksame Verbot von „Killerspielen“. Viele Berühmtheiten und Unbekannte wurden befragt und jeder hatte natürlich etwas zu sagen. Schweigen wäre ja ein Zeichen von Inkompetenz. Und die Lösungen sind auch immer so einfach: Ein neues Verbot hier, oder ein neuer Schuldiger da, was nicht passt, wird passend gemacht. Es schlägt die Stunde der Schwätzer.

Man muss nun nicht ein waffennärrischer Sportschütze oder besonderer Freund von Internetwahn oder gewaltverherrlichenden Computerspielen sein, um zu erkennen, dass solcherlei Wichtigtuerei und Wahlkampfparolen, wie sie in diversen Verbots- und Kontrolldebatten immer durchscheinen, letztlich am Problem vorbeigehen; dass Beschuldigungen und Spekulationen jetzigen wie künftigen Opfern kaum gerecht werden, ja auf diese übelst hämisch wirken müssen.

Tatsächlich: Ein medial-politisches Possenspiel, in dem man sich die Fakten passend zu den eigenen Antworten beliebig zurechtbiegt, statt reflektiert und überlegt nach Ursachen und Konsequenzen der komplexen gesellschaftlichen Probleme zu suchen, die hier zugrunde liegen – das spricht von einer Menschenverachtung, die man in einer humanitären Gesellschaft so eigentlich nicht mehr dulden darf; weder von den Medienmachern und Politikern, aber auch nicht durch ein Publikum, für das dieses ganze Spektakel veranstaltet wird und das sich daran in Betroffenheitswahn ergötzt und alles, was kommt, ob Wahrheit oder Lüge, vorbehaltslos in sich hineinschlürft oder selbst noch breit tritt.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.