Der Schattenregent

Neidvoll blickte der Schattenregent zu den Schlössern der Ferne, wo noch immer König Lothar herrschte, mit harter Hand zwar, jedoch eindeutig und wo ihm die Fürsten weniger launig und zweideutig erschienen. Der Mangel an Mehrdeutigkeit jedoch, auch das war ihm klar, würde ihm weder von Vorteil sein, noch die harte Hand des Königs von Dauer, denn keine Macht der Welt, es ist eine Binsenweisheit, überdauert die Zeit. Und davon war auch im Nachbarland schon viel vergangen.

Eremit
Eremit in der Dunkelheit

Und doch litt der Schattenregent oft darunter, dass seine Herrschaft nicht einmal eine geborgte, sondern nur ein Marionettentheater war, ein Schachspiel ohne Dame, ohne Läufer und mit Bauern, die nicht mehr wirklich schlagen konnten. In diesem System gab es keine Gewinner außer jene, die nicht mitspielten und nur auf seinen Untergang warteten. Irgendwo da draußen. Ja man konnte ohnehin wahrscheinlich niemand mehr so recht trauen. Vertrauensvoll schmiegte sich nur die schwarze Katze der Zeit an, das Unglück, dass ihn so oft schon getroffen und doch letztlich immer verschont hatte.

Er fügte sich fester in seinen dunklen, wollenen Mantel und blickte über die Zinnen in die Tiefe. Beides, Zinnen wie Tiefe, waren sein Werk gewesen, ein Bollwerk, dass er als Architekt der Anlage einst selbst mitentworfen hatte und das nun doch sein Zwinger war, den er nicht mehr verlassen konnte. Man bereut ja sehr oft, dachte er, was man selbst geschaffen hat. Die Dinge an sich sind böse, entfremden sich, insbesondere aber solche, die von vornherein für die Finsternis bestimmt gewesen waren.

Die letzten Heckenrosenblüten waren längst vergilbt und vom öden Novembertotenhauch hinweggeblasen worden, in eine dunkle Ferne, in denen der Mond nur trübe zwischen Fledermausflügeln schwebte. Dornen gesellten sich nur noch zu totem Holz und drinnen ächzte und dröhnte etwas wie trunkene Söldner, die nicht mal sich selbst mehr bewachen konnten, allerhöchsten noch Wachsamkeit erforderten. Der Schattenregent blickte verschüchtert zur glimmenden Fackel am zerfallenen Wehrturm und genoss einen Moment dunkelste Gedanken, bevor ein altes Rabenpärchen, das über eine ferne Brüstung flatterte, ihn aus seinen Selbstmordgedanken riss, anderen Anwandlungen zu.

Was ist ein Schattenregent? – überlegte der Schattenregent kurz. Ein Schattenregent ist ein Herrscher, der im Schatten regiert. So hatte er sich das zumindest vorgestellt damals, in jener Zeit, die nun schon so lange zurückliegend schien. Realistischer war aber wohl die Sichtweise, dass ein Schattenregent entweder a) nur über Schatten regiert, b) selber langsam zum Schatten mutiert oder c) Schatten ansammelt, insbesondere in seinem Gesicht – und, könnte man anfügen: in seinen Gedanken. Allerdings, und das war ihm ebenso klar wie einst seinen unlauteren Auftraggebern, war es müßig, sowohl sich darüber den Kopf zu zerbrechen als auch, den zerbrochenen Träumen nachzutrauern. Im Grunde genommen hatte der Schattenregent eh immer schon gewusst, das es einmal so kommen würde. Denn er war einer dieser Pragmatiker, die Träume zu Stein werden lassen. Er erschuf Alptraumfestungen.

Die eigentliche Aufgabe des Schattenregenten war ebenso ungewiss wie die Motive seiner Auftraggeber. Fakt war, dass er in diesem Gemäuer residierte und eine unsichtbare Maschinerie aufrecht erhielt, deren Sinn hauptsächlich darin bestand, sich selbst am Laufen zu halten, dabei Unmengen von Goldtalern zu verschlingen und so vielen armen Seelen als möglich das Leben schwer zu machen. Dazu hatte sich der Schattenregent aus fernen Ländern allerlei Folterwerkzeuge heranschaffen lassen in einer Zeit, in der er noch jünger und weitaus skrupeloser gewesen war als sein greises und vorzeitig zerfallenes Anlitz einen Unwissenden vermuten ließe. Nur manchmal noch blitzten seine Augen feurig böse unter der Kaputze hervor, aus der nun ein weißer, nichtssagender Eremitenbart quoll. Doch statt Weisheit erfüllte den Schattenregenten nur schwarzer Sarkasmus, über sich, über die zertrümmerte Welt um ihn herum und auch über seine ursprünglichen und allzu naiven Auftraggeber, von denen nun kein einziger mehr am Leben war, was ihn immer noch mit tiefem und abgrundtief herzlosem Stolz erfüllte…

Über Martin Dühning 1508 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.