Das Buch der verpassten Gelegenheiten

Es war kurz nach Pfingsten und D. hatte beschlossen, den kurzen Freiraum, der sich dadurch erbot, für einige längst hinfällige Recherchen zu verwenden. Insbesondere hatte er sich vorgenommen, einige Lücken in seiner Erinnerung durch Literatur zu ergänzen. Weil es aber in der Provinz, in welcher er arbeitete und in seltenen Nächten auch schlief, keinerlei Buchbestände von Relevanz gab, weswegen er sich selbst eine durchaus umfangreiche Sammlung verschiedenster fiktionaler Werke, zwischenzeitlich etwas mehr als 6000, zugelegt hatte, die nun allerdings seine Wohnung dermaßen vereinnahmten, dass sie die Regale bedrohlich bogen und ihm selbst manchmal ganz bedenklich wurde ob ihrer Anzahl, musste er weiter ausgreifen.

Das passende Buch, da war sich D. gewiss, fand sich nicht darunter, schon, da es längst vergriffen und nirgends mehr zu erwerben war, außer in wenigen Exemplaren, die sich aber nur in ausgesuchten Bibliotheken fanden.

So sah sich D. also genötigt, sich in die etwas schwieriger zu erreichende Provinzhauptstadt zu begeben, wo es, wie er sich zu erinnern glaubte, eine größere Bibliothek gab, die diesen Namen auch verdiente. Der Weg dorthin war, wie er wusste, beschwerlich. Zwischen D.s Haus und dem Ziel lag ein langer und mühsamer Weg durch ein entsetzlich düsteres Mittelgebirge, durch das nur wenige kleine Züge fuhren, von denen man auch nie wirklich wusste, ob sie ankamen. Angekommen in der Provinzhauptstadt wurde es nicht besser: Man konnte sich in der Stadt mit ihren vielen engen Winkelgassen leicht verirren und auch das Bibliotheksgebäude selbst war nicht ganz ohne Tücken. Es gab mehrere Stockwerke, in denen die Bücher nach nicht immer ganz nachvollziehbaren Kriterien verteilt waren und auch die Bibliotheksaufsichten steckten voller Heimtücke, teils sogar Bosheit. So war es ihm früher, in besseren Zeiten, einmal passiert, dass man ihn schroff vor die Türe gewiesen hatte, weil er sich grundlos geweigert hatte, der Bibliothekarin in der Philosophieabteilung ein Schaf zu malen. Ein anderes mal hatte man ihm – ganz unvermittelt – wiederum vorgeworfen, dass er ein Zimmermaler sei und außerdem verspätet. Meist ermahnte man ihn aber nur, wenn er vorsichtig auf einem Titel insistierte, dass er letztlich doch selber schuld sei. Am besten war er bislang in der Abteilung für Theologie und Religionswissenschaft gefahren, wo der sehr alte, weiße Bibliothekar in einem Anfall von Güte einmal zu ihm meinte, es bestehe für ihn noch eine letzte Hoffnung. Doch lag das lange Jahre zurück und es war äußerst zweifelhaft, ob der liebe alte Mann noch lebte oder nicht schon längst irgendwo im Land der Schatten dahinstaubte. Überhaupt änderte die Zeit ja so manches, was nach D.s Meinung auch das einzige war, was doch so ziemlich sicher blieb.

D. war deswegen auch keineswegs verwundert, als er an einem schönen Freitagmittag, nach einer langen, abenteuerlichen Reise und aufgrund versäumter Anschlussbummelzüge deutlich später als gedacht vor einer verschlossenen Pforte stand und hierauf lesen musste, dass die Bibliothek wegen eines Großumbaus bis auf weiteres geschlossen sei. Wie zum Beweis dafür tauschten einige Handarbeiter im ersten Stock auch betont umständlich einige Fensterrahmen aus, bewegten sich großspurig, murmelten manch unverständliche Worte und taten so, als würden sie D. nicht beachten. In kleiner und schlecht lesbarer Schrift entdeckte D. daneben auf einem deutlich heruntergekommenen Schild den Vermerk, dass eine – angeblich repräsentative – Auswahl der Werke der Bibliothek für dringende Fälle in einem Ersatzgebäude, in einem Mietshaus in der Vorstadt verwahrt würde. D. seufzte schwer, machte sich aber dennoch unverzüglich auf den Weg. Doch schon kurz hinter dem alten Bibliotheksgebäude, auf Höhe des Stadttheaters, in welchem, wie die Plakate auswiesen, gerade wieder eine hektische Schmierenkomödie auf dem Programm stand, kamen ihm Zweifel. All dies erschien ihm doch recht ärgerlich, zudem wenig Hoffnung bestand, dass der Titel, welchen sich D. zur Lektüre zu entleihen gedachte, unter die repräsentativen gezählt würde.

Das Buch, welches D. suchte, war ein besonderes. Er hatte es einmal in Händen einer hübschen jungen Studentin mit langen, silberweißen Locken gesehen, sich allerdings kaum getraut, die junge Frau anzusprechen. Immerhin hatte er in Erfahrung bringen können, dass ihr Name Ann-Kathrin war, sie einen sinnlichen Mund besaß und ihre Augen die Farbe frischer Kastanien hatten. Sie hatte einen engen, figurbetonten roten Angorapullover getragen, demgegenüber sein ewig verblassender eigener Dufflecoat schlaff und seine Oliver-Twist-Mütze düster abgefallen waren. Statt sie auf das Buch anzusprechen, hatte er sie damals nur scheu anlächeln können, ihr kurz und schüchtern zugenickt und war dann reichlich verwirrt doch weiter in die Gänge zwischen den Regalen geirrt. Eine Woche später hatte er sie noch einmal in der Cafeteria angetroffen, war aber schon nicht mehr in der Lage gewesen, sich ordnungsgemäß zu artikulieren, während sie, sich seiner Unfähigkeit heiter bewusst, ihren zwei beistehenden Kommilitoninnen etwas zu Gehör flüsterte, worauf alle drei leise zu kichern begannen. Das Buch hatte sie dabei lasziv über ihr Knie gehalten, so als fände sie das Ganze äußerst unwesentlich, was D. unbewusst tief gekränkt hatte. Später war ihr D. deswegen aus dem Weg gegangen und fand in diversen Examina die gesuchte Ablenkung. Es ärgerte ihn schließlich aber doch noch lange Jahre. Ja, er fragte sogar viel später noch, als er längst eine Lehrerstelle angenommen hatte, einen Freund, der dann und wann in der Cafeteria zugegen war, nach dem Verbleib des Buches. Doch als sein Freund selbst sein Studium abgeschlossen hatte, verlor sich die Sache.

Leider konnte sich D. zwar durchaus noch an die Schmach, nicht aber mehr an den Titel des Buches erinnern, was das Auffinden desselben zweifellos stark erschwerte. Auch auf eine latente Ortkenntnis konnte sich D. nun nicht mehr verlassen, weil man ihm durch den Umbau schlichtweg das Gebäude und somit den Weg in die Vergangenheit verbaut hatte. Hinzu kam D.s deutliche Abneigung gegen heruntergekommene Vorstädte, in denen seiner Meinung nach hauptsächlich einsame alte, verwahrloste Leute lebten. So blieb D. also, zwischenzeitlich deutlich erbost, auf der Höhe der Straßenbahn stehen und blickte verloren in Richtung der städtischen Kathedralkirche. Freunde hatte er inzwischen keine mehr in dieser Stadt, die wenigen, die er hier noch verorten würde, würde er wohl nicht mehr kennen und ihm schwand jegliche Hoffnung somit hin, in angemessener Zeit des Buches noch habhaft zu werden. Ein Gefühl tiefer Verbitterung über die verpasste Gelegenheit stieg seine Kehle hoch. So setzte er sich in ein Eiscafé in unmittelbarer Nähe des Theaters und bestellte sich einen großen Becher Eisschokolade, welchen er – allerdings zu einem deutlich überhöhten Preis – schließlich auch erhielt.

Während D. die Schokolade in sich zergehen ließ, kühlte er wieder deutlich ab, sah den Abendwolken zu, wie sie ebenfalls zerflossen, spürte den wohlbekannten, kalten Talwind durch die Gassen ziehen und schlenderte allein zurück zum Bahnhof, wo ihn ein verspäteter Zug Richtung Süden wieder zurück in seine kleine Provinz brachte.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.