Zu viele Ecken!

Zu viele Ecken sind gar nicht gesund! Nein, ich rede nicht von Nussecken. Die darf jeder essen, soviel er mag. Zumal man davon, wenn man sie in ausreichender Zahl zu sich nimmt, sicherlich deutlich runder wird – und manchmal ist rund besser als eckig. Insbesondere bei der Architektur würde ich mir manchmal deutlich mehr Kurven wünschen.

Architektonisch ist es hierzulande ein Graus: Geht man am Hochrhein durch die Gemeinden, so gewinnt man unvermittelt den Eindruck, hier waren in den letzten Jahrzehnten nur Leute mit einer besonderen Vorliebe für Schuhschachteln am Werk. Quader türmt sich auf Quader, bei öffentlichen Bauten oft verbunden mit den in Behörden offenbar besonders präferierten, wenngleich im realen Leben völlig unpraktischen, weil ständig wartungsbedürftigen Flachdächern (Tropf, tropf!). Bei den privaten Häuslebauern haben sich Satteldächer zwar immer gut gehalten, doch hier wie dort strotzt es nur so von Einheitsecken, Kanten und säumeligen Symmetrien. Sehr selten und meist bei älteren Häusern trifft man einmal auf eine Rundung, meist ein einzelnes rundes Giebelfensterchen, welches die Quaderwut durchbricht. Ab und zu baut auch ein neuer Architekt mal eine Rundung ein, allerdings nur so als fadenscheiniges Alibi, gleichsam um zu beweisen, dass man Rund durchaus vielleicht ansatzweise gekonnt, wenn man es denn nur gewollt hätte.

Ich verstehe das nicht. Es gab doch längst einen Jugendstil, einen Friedensreich Hundertwasser, der solche zurechtgestutzte Fantasielosigkeit als formprächtiger Architekturdoktor zu kurieren wusste. Es gab das Bauhaus, welches bewies, dass man Praktikabilität mit Kunstverstand durchaus koppeln kann. Und es gibt so viele schöne Beispiele, die eigentlich zeigen, dass es auch besser geht. Und trotzdem, überall wimmelt es nur von langweiligen Quadratbauten, die so 08/15 aussehen und so unbequem wirken, dass man in ihnen sicherlich nur krank werden kann. Was spricht denn dagegen, einmal ein paar runde Bögen oder Rundfenster einzubauen? Passen Schuhschachteln wirklich besser zur Landschaft als asymmetrisch, aber harmonisch geschwungene Bauwerke? Oder ist es nicht schlichtweg der einfachere und somit vorgeblich bessere Weg, genormt-kantige Fenster, Türen oder ganze Fertigbauten aus der Industrieproduktion zu verwenden statt individuell ästhetische Konzeptionen zu wagen?

Ja, stellt man kritische Anfragen, so lautet die Antwort, wenn man denn überhaupt eine erhält, man müsse dafür noch dankbar sein: „Seien Sie doch froh, dass Sie die Schuhschachtel überhaupt gekriegt haben und nicht ganz im Regen stehen!“ – Beispielsweise ist das die übliche Taktik bei Bauten für den Bildungsbereich.

Zweimal hat das schon prima geklappt allein in den letzten 15 Jahren am Klettgau-Gymnasium. Schuhschachtel Nr. 1 war Pavillon 2.0, den man nach dem durch Eltern, Schülern und Kollegium erzwungenen Neubau so billig hochzog, dass die Schüler die Zimmerwände heute mit einfachen Schulzirkeln durchbohren können, was sie bisweilen auch tatsächlich tun. Beim nächsten kleinen Erdbeben dürfte  dieses Kartenhaus dann ganz zusammenklappen. Schachtel Nr. 2, der E-Bau, war immerhin schon deutlich wertiger bei der Bausubstanz, aber ein gewaltiger Schuhschachtelquader ist es dennoch. Nicht das, was man eigentlich gewollt hätte, aber immerhin doch etwas, seien wir dankbar. Öffentlich Kritik daran zu üben war deshalb jahrelang bei Strafe verboten. Bei der neuen KGT-Mensa, wenn sie denn mal kommt, wird es sicher nicht anders sein. Eine weitere quadratisch-unpraktische Schuhschachtel, für welche die Innwohner werden dankbar sein müssen, dankbar, dass sie dann überhaupt ein undichtes Flachdach (wie bei Pavillon, E-Bau und Hauptgebäude) bekommen werden und nicht gänzlich im Regen bzw. Schneesturm stehen müssen oder mit ebenfalls schuhschachteligen Klassencontainern auf dem Schulhof vorlieb nehmen. (Die hatten wir hier auch schon!) Wie auch immer: Von Ästhetik keine Spur, und wenn überhaupt, dann gibt es im besten Falle wieder ein liebevolles Würfelkunstwerk eines eckenliebenden Kantenfanatikers.

Gut, die öffentliche Hand verausgabt sich ja oft und vielerorts, insofern muss Ökonomie immer an vorderster Stelle stehen – auch dann, wenn sie nur scheinbar oder gerade mal für die nächste Legislaturperiode Geld spart. Es muss aber doch nach außen hin zumindest so aussehen, als sei Sparsamkeit alles. Und da man sich an Rundungen womöglich eher stößt denn an den ohnehin allgegenwärtigen Ecken und Kanten, bleibt hier wohl auch künftig alles, wie es ist oder gestern schon war. Schulen in Deutschland sehen fast überall gleich lieblos aus. „Treibhäuser der Zukunft“, die so gebaut sind, dass sie den Einwohnern Lust auf Schulleben machen, sind sehr, sehr selten.

Seien wir ehrlich, die privaten Bauherren wissen es ja auch nicht besser. Hauptsache, ein eigenes Haus oder ein kostengünstiges Mietsilo, in das viel Leute reingehen als Geldlegehennen. Ästhetik beschränkt sich allenfalls auf die Fassadenbemalung. Ansonsten gilt das Gesetz der Ration: Viele billige Fenster sind besser als einige schöne und in Schuhschachteln ist ja auch einfach viel mehr Platz, um viele kantige Fertigmöbel aus dem Kaufhaus oder sonstige würfelige Päckchen aus dem Versandhaus hineinzustapeln. Viel ist mehr und mehr ist gut. Das ist dann wohl mehr wert als solider aber unitärer Mehrwert.

Letztlich führt scheinbare Ökonomie und verkappter Konsumismus auch hier doch nur wieder zu einer Verarmung des Lebens. Man verschiebt dann schöneres Wohnen in die private Träumerei und diese auf das Nachleben. Solange wohnt man nur und hängt sich runde Bauten allenfalls als preisgünstige Kinkade-Kalenderdrucke an die normierte Quadratwand. Hoffen wir dann, dass wenigstens die Architekten der Altersheime sich mehr Zeit nehmen und sich mal eigensinnige Gedanken für lebensgerechtes Wohnen machen. Allein, in dieser unserer Gesellschaft, ich wage auch das zu bezweifeln. Denn letztlich liefert auch die Standardarchitektur nur die Bausubstanz dafür, was die Gesellschaft und jeder Einzelne von uns an Ideen vorgibt. Und eine runde Sache ist hier wie dort äußerst rar, denn die Konsumgesellschaft denkt immer in Serie, die am besten exponentiell im Quadrat gefertigt wird. Echte Individualität bleibt trotz offiziell geheiligtem Individualismus immer Unikum, denn selbst die vielen  „Individualisten“ von heute können im Zweifelsfall nur anecken, aber keine runde Sachen erschaffen.

Allzu viele Ecken sind aber nun mal nicht gesund…

Über Martin Dühning 1507 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.