Digitalisate und ihre Zukunft – eine Prophezeiung

Die Angst muss tief stecken, so tief, dass man sogar zum Äußersten bereit ist. Das Äußerste in diesem Fall war ein Vertrag, der es den Schulbuchverlagen ermöglichen soll, eine Abhörsoftware in Schulnetzen zu installieren, um die Lehrer, jene berüchtigten Raubkopierverbrecher, zur Strecke zu bringen. Ein neues Verbrechen wurde dazu geschaffen: Digitalisate!

Vorzeichen einer geplanten Verwüstung

Zwar wird – nach berechtigter Entrüstung in den Medien darüber – der sogenannte Schultrojaner nachbehandelt, vom Tisch ist er aber keinesfalls, auch nicht beim Kultusministerium in Baden-Württemberg. So flatterte z. B. allen Lehrkräften am Klettgau-Gymnasium vor Weihnachten Post ins Haus – dass sie jene schrecklichen Dinge, Digitalisate nämlich, natürlich nicht besitzen dürfen und keinesfalls je erstellen dürfen. Wie immer, wenn man Angst schüren und einschüchtern will, wurde der Sachverhalt nur unzureichend erläutert. Nun denn, soviel kann ich als verschwiegener Obersystemadministrator ja verraten: In den Schulnetzen des Klettgau-Gymnasiums gab es nicht mal welche!

Jedenfalls keine Digitalisate aus Schulbüchern, und nur jene dürften fraglich sein. Dass man dagegen im digitalen Zeitalter Informationen digitalisiert, das ist durchaus erwartbar und zudem – je nach Zweck und Art der Vorlage in unterschiedlicher Weise – nach geltendem Recht sogar erlaubt. Nicht zuletzt deswegen gibt es ja Urheberrechtsabgaben inzwischen auf alle Geräte, die dazu auch nur im Entferntesten verwendet werden könnten.

Ausgenommen davon sind in besonderer Weise hauptsächlich Schulbücher. Und genau darum war eine Software angedacht, um digitale Kopien derselben, jene „zweifelhaften Digitalisate“ aufzuspüren und zu vernichten und jene bekanntermaßen üblen Gesellen, die Lehrer, auf disziplinarischem Wege zu bannen.

Die erste Maßnahme war jetzt jedenfalls eine Verwarnung. Je weniger eine Schuldzuweisung aber zutreffend ist, desto größer ist die Wut und Entrüstung darüber.  Momentan entrüsten sich hauptsächlich die Systemadministratoren, weil sie sowas üblicherweise wieder als Erste auszubaden haben.

Wie man vollautomatisch zum Verbrecher abgestempelt wird

Als Administrator, aber auch als Autor eigener „Lehrwerke“ habe ich dagegen einiges einzuwenden. Nicht nur, dass in manchen anderen Schulen in überzogenem Maße nun jeder Scanner als „Mordwaffe“ gebrandmarkt wird und es sogar andernorts Schulleiter geben soll, die sämtliche Nutzungsmöglichkeiten (inklusive Laufwerke und Netzverbindung) von PCs rigide verhindern möchten.

He, wenn man sie dann sowieso nicht mehr nutzen soll, außer als überdimensionierten Taschenrechner, wozu hat man in den vergangenen 10 Jahren das ganze Gerümpel für unmäßig viel Geld angeschafft und zwischenzeitlich nahezu jede Lehrkraft gezwungen, sich mit Computern zu beschäftigen – ob sie wollte oder nicht?

Wozu verbrennt man wochenweise Manneskraft mit der Instanthaltung einer ganzen Armee von Rechnern, wenn man umgekehrt jegliche produktive Betätigung damit verhindern möchte? Denn darauf läuft es ja wohl hinaus, wenn man gleich alle „Digitalisate“ verhindern will!

Was ist ein „Digitalisat“?

Ein Digitalisat, so erklärt es beispielsweise auch die allwissende Wikipedia, ist ja letztlich nichts anders als eine mittels technischer Hilfsmittel wie Scanner oder Digitalkamera angefertigte digitale Kopie eines analogen Werkes, also das Endprodukt einer Digitalisierung. Folglich muss sie entweder als Bild oder als per OCR umgewandeltes Textdokument vorliegen. Die Möglichkeiten im Einzelnen sind da enorm, womit dann auch die technischen Probleme beginnen. Mit simplen „Wasserzeichen“ wie bei Musikdaten (Mp3 etc.)  ist es in diesem Falle nämlich nicht getan. Nötig wäre ein enorm aufwendiger Abgleich mit einer gemischten Text/Bilddatenbank mit entsprechendem Traffic im System. Falscher Alarm wäre an der Tagesordnung.

Denn wie bitte schön soll jede noch so geniale Software rechtmäßig erstellte digitale Inhalte von unrechtmäßigen unterscheiden, besonders dann, wenn es noch nicht einmal die Verlage selbst sauber trennen?

Zwei Beispiele: Sowohl eine Glosse der Schülerzeitung Phoenix hat es in ein Lehrbuch geschafft als auch einige Unterrichtsmaterialien aus meinem Religionsunterricht. Im ersten Fall ist es weniger dem Verlag, als der VG Wort zu verdanken, dass der Urheber (ich) ordnungsgemäß vergütet und als solcher geführt wird, wie man dann auf S. 49 der neuen Ausgabe des Cornelsen Deutschbuchs Orientierungswissen Deutsch im Kapitel über Satirisches Schreiben auch nachlesen kann. Übrigens bin ich durchaus stolz darauf, es als Autor in ein bundesweit vertriebenes Schulbuch geschafft zu haben.

Im zweiten Fall hatte ich weniger Glück. Zwar fragte auch hier der Kösel-Verlag artig nach, als er meine Arbeitsblätter zu Utopia von Thomas Morus für seinen Lehrerkommentar zu Mittendrin 9/10 verwendete, und ich gab sie ihm wie immer – ganz der Creative Commons verpflichtet – freiwillig und mit besten Wünschen, sodass man auf S. 52 des Lehrerkommentars zu Mittendrin 3 als Material 1.8 mein passendes Arbeitsblatt fast wörtlich übernommen findet, aber im ganzen Lehrerkommentar findet sich kein einziger Hinweis auf die verwendeten Quellen. Wie bitteschön soll eine noch so genial konzipierte Plagiatsoftware da auf einen anderen Schluss kommen, als dass der um sein Urheberrecht gebrachte Autor nun zum Plagiator gebranntmarkt werden muss?

Darf ich jetzt also künftig meine eigenen Arbeitsblätter nicht mehr in der Schule einsetzen? Oder nur noch mit Schützenhilfe meines Anwalts? Genau danach sieht es aus!

Das ist schon ziemlich schlimm und hat dazu geführt, dass ich mit Arbeitsblättern inzwischen weit weniger freigiebig geworden bin, als ich das früher war, als alle meine Schüler meine selbsterstellten Arbeitsblätter auch auf der Niarts-Webseite herunterladen konnten. Fast könnte man meinen, dass es die Schulbuchverlage bestimmt auch nicht sehr schmerzt, wenn unliebsame Konkurrenz aus dem Netz schwindet. Vielleicht ist das ja sogar gewollt.

Der Staat misstraut seinen Angestellten

Härter trifft mich die Digitalisate-Propaganda aber als Administrator, denn dann muss ich künftig womöglich (natürlich mal wieder ganz unentgeltlich) als Erfüllungsgehilfe der Rechteverwertungsindustrie dabei helfen, Lehrerkollegen auszuspionieren.

Das geht mir nun wirklich gegen den Strich: Hier wird eine Saat des Misstrauens gesät, die – einmal mehr – recht wenig für den Dienstherrn spricht. Dieser misstraut offenbar seinen eigenen Beamten, die neben zwei Staatsexamen immerhin eine lange Probezeit hinter sich haben und dabei auch mehrfach auf die rechtsstaatliche Verfassung schwören mussten.

Das reicht aber offensichtlich nicht. Sonst müsste man sie ja nicht dauerüberwachen. Es sind ja offenbar alles potentielle Verbrecher. Schlimm, dass wir solchen Übeltätern unsere Kinder anvertrauen müssen, die freilich, weil sie ja ebenfalls potentielle Verbrecher sind, gleich mitüberwacht werden…

Die Zukunft ist trotzdem digital

Freilich, die Paranoia, die hier ganz offensichtlich am Werk ist, wird gegen die technische Entwicklung nicht viel ausrichten. Sieht man sich die Entwicklung in anderen Teilen der Welt an, wo es keine Buchpreisbindung gibt und verbindet den blühenden digitalen Buchmarkt mit der neue Gerätekategorie der Tabletrechner und mit den Notwendigkeiten des Schulalltags, dann braucht man kein großer Prophet sein, um zu erkennen, dass hier nichts so bleiben kann wie es gerade ist. Nicht nur der immer noch präsente Visionär Steve Jobs hielt überfüllte Schulranzen im 21. Jahrhundert für veraltet und war noch ganz am Schluss dabei, das iTunes-Prinzip und die Tablets in die Schulen zu tragen.

Projekte wie Gutenberg.de, aber auch die Digitale Bibliothek haben schon viel früher erkannt, dass das digitale Zeitalter angebrochen ist. Als Student, also vor mehr als 10 Jahren,  habe ich selbst aktiv dabei mitgeholfen, alte seltene Texte zu digitalisieren, um sie überhaupt wieder für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dafür hatte ich mich auch über das Regelstudium hinaus mit vergessenen Autoren beschäftigt wie Danziger Barockdichtern (Stichwort: Plavius) oder mit dem oberrheinischen Dichterkreis um Johann Georg Jacobi. Beides war kein Verbrechen, sondern wissenschaftliche Arbeit und kulturschaffende Tätigkeit!

Nicht alle Digitalisate sind schlecht, wie es uns die Verlagsindustrie nun glauben machen will, indem sie den Begriff propagandistisch negativ besetzt!

Unabhängig davon bin ich auch heute immer noch der Überzeugung, dass uns das papierne Buch in Literaturkreisen noch lange erhalten bleiben wird. Denn es hat in Sachen Nachhaltigkeit durchaus bleibende Vorzüge. Aber Gebrauchstexte, wie sie außer in Zeitungen auch in Schulbüchern zu finden sind, lassen sich problemlos durch digitale Inhalte ersetzen.

Damit meine ich nicht, dass man in plumper Manier Schulbücher einscannt, wie das jetzt von Verlagsvertretern, aber auch Teilen der Kultusministerien unterstellt wird. Denn das tut kein Lehrer, der halbwegs etwas von sich hält. Lehrer, zumindest die am Gymnasium, sind fachlich qualifizierte Hochschulabsolventen, die ihre Texte und Arbeitsblätter durchaus selbst schreiben können. Und wenn sie auch nur ein bisschen was auf sich halten, dann tun sie das auch.

Neben den Schulbüchern gibt es dank der modernen Referendariatsausbildung in jeder Fachschaft verborgene Schätze von Lernzirkeln, individuell zugeschnittenen Arbeitsblättern und gute Lehrer haben ganze Schrankwände bei sich zuhause gefüllt mit eigenem Unterrichtsmaterial.

Das einzige, was sie in Schulen bislang davon abhielt, ihre Werke in größerem Ausmaß zu verbreiten, sind die immensen Kopier- und Druckkosten, die schon immer ein besserer Kopierschutz waren als es jede Überwachungssoftware jemals sein könnte.

Künftig: Tablets als Schulbuch – und PC-Ersatz

Und genau diese Druckkosten fallen mit Ebookreadern und Tablets aber mittelfristig weg. Sobald eine Schule nur auf die Idee kommt, solche als Lehrmittel anzuschaffen, müssen die Schulbuchverlage tatsächlich bangen, insbesondere in Zeiten, wo jede Schule ein schuleigenes Curriculum mit individuellen Lehrinhalten bieten muss, was durch kein Schulbuch vernünftig abgedeckt werden kann.

Man muss kein Visionär sein um zu begreifen, dass neben den papiernen Schulbüchern auch die Computerräume auf der Liste der bedrohten Arten stehen. Denn sie sind zu sperrig, nehmen Schulraum weg, sind teuer in der Anschaffung und Erhaltung und zeitaufwendig in der Wartung. Selbst mit einem genialen Systemadministrator, den es in Schulen nur selten gibt – denn er muss am puren Schulalltag verzweifeln, wird ein normaler Lehrer mit der Massenabfertigung Computerraum nur mäßig glücklich, denn sie passt nicht zum pädagogischen Ziel der Individualbetreuung.

Zudem fühlt sich die autonom agierende Lehrkraft immer der Willkür eines Systems ausgeliefert, das sie womöglich kontrollieren will, allein dadurch, dass es sich der Kontrolle des Pädagogen entzieht, oder nicht richtig funktioniert.

Darum, weil die PCs letztlich so unpraktisch in der Handhabung sind wie die Schulbücher im Ranzen von Durchschnittschülern zu schwer, werden beide in absehbarer Zeit schwinden und gegen das ersetzt werden, was jetzt schon bei fast jedem Schüler vorhanden ist – eine Art Smartphone, nur etwas größer und mit Touchscreen oder Stift, leicht zugänglich, intuitiv nutzbar, interaktiv, optimalerweise mit einer Funkverbindung zu einem Projektionsgerät oder Bildschirm und einer Tauschmöglichkeit mit der Lehrkraft und für die Schüler untereinander.

Kleine, smarte Geräte, die jeder dabei hat und auf die er alles das kopieren und bearbeiten kann, was er gerade braucht – mehr braucht es für den Durchschnittsbetrieb an der Schule eigentlich nicht.

Das aber genau ist der Alptraum nicht nur der Schulbuchindustrie!

Technik muss Hilfsmittel sein, kein Knebel

Der neuerliche Vorstoß mit der Plagiatfindungssoftware mag aus dieser düsteren Sicht entstanden sein. Er wird diese Entwicklung dennoch nicht verhindern, sondern sogar beschleunigen, denn sie setzt das klassische Schulnetz dem Überwachungsverdacht aus und senkt seine Akzeptanz beim Nicht-Informatiklehrer (die große Mehrheit) noch weiter. Die getreuliche Befolgung von ministerialen Diktaten durch missmutige Erfüllungsgehilfen wird der klassischen Kübelinformatik daher langfristig den Rest geben und eigenverantwortlichen Lösungen und privaten Initiativen weiteren Vorschub. Schüler sind technisch inzwischen ohnehin viel weiter im Smartphone-Zeitalter angekommen, und die meisten Lehrkräfte sind es auch, ganz unabhängig vom Alter.

Schulen lassen sich daher nicht kontrollieren wie ein Gefängnis, und das passt auch einfach nicht zum Duktus einer demokratischen Gesellschaft, darum wird es auch nicht gelingen, zum Glück.

Ob man als Demokrat in einer iTunes-Monokultur glücklicher wird, die letztlich auch stark kontrollierend ist, ist eine andere Frage, wenn sie sich in Schulen denn überhaupt stellen würde. Von ihrem Selbstverständnis her sind Lehrkräfte nämlich immer entweder Autokraten oder sehr kollegial gesinnt, niemals jedoch glücklich-dümmliche Untertanen, die kommentarlos Befehle ausführen. Daher sind jegliche Diktate zu einer unhinterfragten Monokultur zum Scheitern verurteilt, ebenso Abo-Modelle, denn die Schulträger können sich diese nicht leisten, zumindest nicht in dem finanziellen Rahmen, wie es sich die Verlagsindustrie mit scheelem Blick auf die Mobilfunkbranche wünscht.

Am ehesten Zukunft hat ein System, das dem einzelnen Pädagogen die Freiheit lässt, die Technik als das zu nutzen, was sie ist, ein optionales Werkzeug bei der didaktischen und pädagogischen Arbeit. Glücklich ist die Lehrkraft, wenn sie bei der ganzen Sache auch noch für ihr Fach kreativ sein kann. Ein System aber, was von oben herab diktiert wird und die persönliche Lehrfreiheit und Kreativität im Umgang mit den Schülern beschneidet, hat dagegen auf Dauer keine Chance, nicht einmal als Drohkulisse.

Das heißt nicht, dass ein solches System nicht hie und da mühsam errichtet wird, manche Schulen lieben es ja, mit teuren, wenn auch obsoleten Anschaffungen zu protzen (man erinnere sich an die Sprachlabore der 70er, manch sinnfreie Computeranschaffungen in 80ern und 90ern und neuerdings die sogenannten „Whiteboards“, teure Spielzeuge für prestigesüchtige Schulleiter und Systemadministratoren mit zuviel Freizeit). Ministerien spielen zur Not auch gerne mal die Disziplinarkarte aus und erlassen Verordnungen, ganz egal, ob diese umsetzbar sind oder nicht.

Aber beides wird wohl aufs Ganze gesehen ins Leere gehen. Dinge, die nicht Hand und Fuß und auch kein Herz haben, lassen sich auf Dauer nicht halten, oder nur mit unverhältnismäßig großem Energieaufwand. Beides würde in unserem Bildungssystem an den fortlaufenden Kosten von Zeit und Geld scheitern.

Die Zukunft der Technik ist deshalb eine, die wie von selbst zum Schulalltag passt, die sich geschmeidig anpasst, mithin eine dienende, aber sicher keine knebelnde. Und sie wird sinngemäß individualistisch sein, also vom Einzelnen ausgehen -und von ihm auch bezahlt werden müssen.

Je mehr man sich dagegen stemmt, desto schneller tritt es ein. Da hilft auch kein Lobbying.

Überfällig ist es längst. Und es wird kommen. Sehr, sehr bald …

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.