Die Zeit, die bleibt…

Es war in einem Unheilssommer, die Sonne neigte sich bereits, als D. zum ersten Mal merkte, dass sich die Zeit nicht gleichmäßig im Raum bewegt, sondern wie ein altes, eierndes Zahnrad jeweils ruckweise knarzend vorspringt.

Diese Bewegung vollzog sich besonders auffällig im Frühjahr, wenn eben noch junge Nachbarn plötzlich gebückt und zerfalteter als sonst umherliefen; etwa alle 12, seltener in sieben Jahren nahm ein Zahnrad eine gänzliche Umdrehung vor und die Dinge veränderten sich merklich bis in ihre Substanz hinein. Und hatten alle ihre eigene Zeit und somit ihr eigenes kleines Rädchen, das sich unaufhaltsam voran drehte, jedes anders, sodass das Klappern der Myriaden von Zahnrädern, den kleinsten wie den größten, einen eigenartigen Klang ergab, den man nur frühmorgens oder mit Migräne wahrnehmen konnte, der aber jeden unausweichlich bis ins Mark erschütterte, der ihn hörte, denn es war ein Geräusch wie das Zerbersten von Knochen tief unter Wasser.

„Ach“, dachte da D., „das Leben ist nichts weiter als eine kleine Blase mit etwas Glück und viel Luft drin in einem Meer aus Tod und Sinnleere. Wenn uns Gott die Gnade gibt, diese kleine Blase als unser Heim zu lieben, dann haben wir schon viel vom Leben verstanden.“ Ganz zufrieden freilich war D. mit diesem Fazit nicht und suchte noch lange den scheinbar unvermeidlichen Lauf aller Dinge irgendwie zu stoppen. Doch erwies sich dies als äußerst schwierig, wenn auch nicht ganz unmöglich, so aber doch recht verdrießlich und mit vielen Mühen und Schwierigkeiten versehen, die allesamt letztlich doch nicht aufhalten können würden, was geschähe, wenn nur ein bisschen Kraft im falschen Moment weggenommen würde.

D. wäre aber nicht D. gewesen, wenn er sich nicht trotzdem innig um eine Lösung bemüht hätte und sein alter und grauer Kopf sträubte sich in alle geistigen Richtungen, doch fand er nirgends etwas, dass ihn hätte zufrieden stellen können.

Denn nichts vermochte die Zeit, diesen alten trüben Tiger, zu zähmen. Und letztlich würde sie auch ihn selbst aufspüren und verschlingen. Das mochte er am wenigsten.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.