In guten Geschichten und Erzählungen, solchen mit gutem Ausgang meistens, in Märchen, gibt es weise Personen, deren Wissen und Fähigkeiten über das Gewöhnliche hinausgehen, die die Welt überblicken und die durch ihre Weisheit dennoch nie in Versuchung gelangen, ihre Kräfte für so schnöde Dinge wie Macht oder Ansehen zu missbrauchen, die ihre Gaben lieber zu schöpferischen Zwecken gebrauchen und ihre Heimat denen öffnen, die Rat suchen, kurz: Personen, die eine Seele von Mensch sind.
Ein solcher Mensch war für mich Roland Ueber, der am 9. Januar 2013 verstarb. Bis zum Jahr 1994, als er pensioniert wurde, war er mein Kunstlehrer, oder besser gesagt „Kunsterzieher“ (er legte stets großen Wert darauf, so bezeichnet zu werden). Von den Lehrern, die mich 13 Jahre lang unterrichteten, war er einer, der das Wertprädikat „Pädagoge“ am Gymnasium verdienten, denn er reduzierte Menschen nicht auf ein Fach, sondern bemühte sich, die Person als Ganze wahrzunehmen. Gleichzeitig hatte er die nötige fachliche Tiefe, um Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Kunst als gelebte Wissenschaft beizubringen. Da er einer der wenigen Universalisten war, die mir zu erleben vergönnt war, beschränkte er sich dabei nicht auf sein Kernfach Bildende Kunst, sondern war auch in musikalischer und literarischer Hinsicht interessiert und zudem sehr philosophisch veranlagt. Was ihn daneben besonders auszeichnete, war sein sehr feiner Humor.
Auch nach seiner Pensionierung stand sein Haus interessierten Menschen, Schülern wie Lehrern, offen. Es lag ganz in der Nähe des Klettgau-Gymnasiums, gut versteckt hinter einem Wald – wie im Märchen – und ähnlich dem Zauberer Tomtidom aus Tonke Dragts Roman „Das Geheimnis des siebten Weges“ war es gedoppelt: Ein „normales“ Haus um darin zu wohnen und ein Stück weiter in seinem Garten ein zweites, künstlerisches Häuschen, wo er mit der Kunst LEBEN konnte. Dieses enthielt nicht nur sein Atelier, sondern auch sonst eine Sammlung höchst interessanter Gegenstände, unter anderem dort begegnete ich zum ersten Mal einem Streichpsalter (inzwischen habe ich ja selber eine Menge merkwürdiger Musikinstrumente). Herr Ueber war in viele Richtungen interessiert, zeitlich wie geographisch, und hatte keine Probleme damit, in aller Stille über den einfachen Horizont des „heute“ hinwegzusehen und damit neue, innere Welten zu erschließen. Es schien mir immer, der Mann verfügte heimlich auch über echte Zauberkräfte. (Schon deshalb, weil die Zeit in seinem Hause still zu stehen schien.)
Diese Eigenschaften führten allerdings dazu, dass er seinerzeit am modernen Klettgau-Gymnasium der Faller-Ära genau die gleichen Schwierigkeiten hatte wie ich: Stille Wasser und Querdenker, die einfach still kreativ sind ohne laute ideologische Parolen, lagen damals nicht so ganz im Trend. Heute wäre er wahrscheinlich am Klettgau-Gymnasium wesentlich berühmter geworden (und falls nicht, hätte ich mit meiner Auctoritas nachgeholfen). Solcherlei Gerühmtheiten hatte er allerdings auch gar nicht nötig – denn er hatte Talent – und teils einen Heidenspaß daran. So unterscheiden sich seine Werke von denen anderer Künstler in der Region auch dadurch, dass sie oft ungewöhnlich, teils sehr klein gehalten sind (bis hin zu miniaturisierten Ölgemälden) und auch sonst auf vielerlei Weise in Form und Inhalt gleichermaßen eher mit den Konventionen spielen.
Roland Ueber machte sich in seinen Werken deutlich kleiner, als er war. Unter seinen Werken finden sich viele Radierungen, Zeichnungen, Aquarelle, Ölgemälde und auch Skulpturen. Wahrscheinlich war er auch literarisch tätig, womöglich auch musikalisch. Im Unterschied zu anderen Künstlern, die im Umfeld des Klettgau-Gymnasiums tätig waren, huldigte er weniger den ästhetischen Normen der Moderne. Seine Werke gedeihen viel organischer, beziehen Elemente der Natur mit ein, wirken teils surreal, manchmal unheimlich düster, manchmal witzig, manchmal skuril.
Obwohl er kein Grande am Klettgau-Gymnasium war, wirkte er noch Jahrzehnte über seine Pensionierung hinaus. Seine eigentlichen Hauptwerke sind am KGT in Vergessenheit geraten wie vieles andere auch. Aber indirekt wirkt er auch dort bis heute weiter. Teils unterrichten ehemalige Schüler von ihm inzwischen selbst als Kunstlehrer an der Schule, von ihm stammt auch das berühmte KGT-Logo, das seit 1987 auch Teil des offiziellen Schulemblems ist. Seine Kunst-AG hat viele Schüler dazu gebracht, selbst in grafische Berufe zu gehen und seine alleinige Anwesenheit bewirkte, dass zu seiner Zeit Kunst nicht nur Ideologie war, sondern auch sichtbar handwerklich gut gemacht. Das hob seinerzeit das Niveau aller Künstler am Klettgau-Gymnasium deutlich.
Ich habe viel von ihm gelernt, was Kunst und auch Kunsthandwerk angeht, vielleicht sind ein Drittel meiner praktischen Kenntnisse von ihm. Kopieren konnte (und wollte) ich ihn allerdings nie. Denn dafür bin ich wohl zu bunt und stilistisch deutlich kindischer, außerdem sind seine organisch fließenden Strukturen für mich unerreichbar. Gut sieht man das, wenn man seine Version KGT-Logos mit der meinigen vergleicht: Meine Neubearbeitungen sind definitiv stumpfer und geometrischer, passt damit aber womöglich besser zum alten und neuen Klettgau-Gymnasium, wo man auch oft lieber stumpf und eckig, als feingeistig und organisch ist. Leider.
Letztlich gäbe es ohne Roland Ueber kein „Nitramica Arts“, denn sein privater „Workshop“ hat mich immer sehr beeindruckt (und ohne Niarts-Kunst keine moderne Phoenix- oder KGT-Webseite). Für mein Sabbatjahr hatte ich eigentlich noch einige Besuche bei ihm fest eingeplant. Immerhin hatten wir zuletzt vereinbart, dass ich für seine Puppenfiguren noch ein Theaterstück schreibe (bzw. er umgekehrt für meine Figurentheaterstücke Figuren kreiert – das erste Stück sollte „Das ist nicht Kafka!“ heißen). Zudem bin ich gerade dabei, die analoge Kunst wieder stärker zu bedienen, wo er unfraglich der Meister war.
Daraus wird nun leider nichts mehr und sein relativ zeitiger Tod wird meine Bemühungen, mal meinen eigenen Stil zu verfeinern, deutlich erschweren. Wie gesagt, die meisten anderen Künstler der Region sind eher modernistisch, keine Universalisten und kommen daher auch nicht als Mentoren in Frage. Zudem verliere ich mit ihm sicher auch persönlich einen Menschen, der, wenn schon nicht enger Freund, so doch zumindest befreundet und ein bisschen seelenverwandt war.
Bleibt der Welt aber doch noch sein Werk. Vielleicht gibt es ja mal eine Ausstellung zu ihm, die freilich aber wohl sehr aufwendig, da umfangreich, wäre. Er hätte aber jedenfalls verdient, nicht ganz vergessen zu werden.