Kunst ist, was gefällt

Was darf, was soll Kunst im 21. Jahrhundert? „Erlaubt ist, was gefällt!“, ließ der Klassiker Goethe noch seinen Torquato Tasso verlauten und setzte ihm doch sogleich Schranken durch die Antwort der Prinzessin: „Erlaubt ist, was sich ziemt.“ Und wie sieht das heute aus?

Man möchte glauben, Hofetiquette und Standesdenken sollte heutzutage für Dichter, Maler, Musiker und Denker nicht mehr ein so unüberwindbares Hindernis darstellen, dass es den Künstler, Goethes Tasso gleich, schließlich in ambiguines, ja fast irrsinniges Schweigen drängt. Tatsächlich wurde die Kunst technisch gesehen im 20. Jahrhundert unglaublich demokratisiert und wenn auch in manchen Institutionen weiterhin Fürstenhöfe inszeniert werden, sollte man doch annehmen, dass sich die Kunst auch anderswo äußern könnte. Immerhin stehen heute fast jedem zahllose künstlerische Möglichkeiten offen, der modernen Technik sei Dank.

Was man dabei jedoch übersieht, sind die Schranken im eigenen Denken der meisten Künstler. Als ich 2003 daran ging, ein paar Musikstücklein über das Hochrhein-Gymnasium zu komponieren, wurde ich ihrer erstmals gewahr, denn ein sehr kompetenter damaliger Musiker bewunderte zwar einerseits die an Bach orientierten Tonartwechsel in deren Kadenzen, wies andererseits aber schroff von sich, heute noch im Stile von Bach zu komponieren. Die Grenzen, die sich hier zeigten, waren wieder einmal mehr der Genieanspruch, den die Moderne den Künstlern auferlegt: Es muss immer mehr und immer origineller sein als alles, was früher war. Gleichzeitig leugnet man das Vorhandensein einer impliziten Wahrheit, was erstere Ansprüche erst so richtig unausstehlich macht. Es ist meines Erachtens nicht die Aufgabe von Kunst, das Universum von Grund auf neu zu erfinden. Im Gegenteil, um Kunst zu schaffen ist sogar immer notwendig, an bereits Vorhandenes anzuknüpfen.

Ich würde es tatsächlich eher mit Torquato Tasso halten: „Erlaubt ist, was gefällt!“ – und zwar nicht allein dem Publikum, sondern auch dem Dichter und – dem würde ich auch ein gewisses Mitbestimmungsrecht einräumen – dem Kunstwerk selbst in seiner Materialität. Denn wenn es im digitalen Zeitalter auch oft übergangen wird, ohne auf seine materielle Beschaffenheit zu achten, kann kein Werk entstehen. Werke sind immer auch eine Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Stoff, aus dem seine Werke gemacht werden. Wie man ohne den Marmor zu kennen, keine Skulpuren daraus „er-finden“ kann, kann man ohne Musikinstrumente auch keine stimmige Musik oder ohne Kenntnisse der Optik keine wirklich wertigen Fotos machen. Zufallsfunde vielleicht, aber keine Kunstwerke. Tatsächlich sind viele schöne Fotos, wie sie sich im Internet finden, Schnappschüsse, also Zufallsgeschenke. Denn auch der Zufall ist in dieser Welt sehr ergiebig. Ja, ohne Zufälle gibt es sicher auch keine Kunst, doch ist noch lange kein Künstler, wessen Werke sich nur aus Masse mit einigen netten Zufällen ergeben. Ein guter Künstler ist meines Erachtens immer auch ein guter Handwerker. Denn wer von seinem Handwerk nichts Grundlegendes versteht, kann nicht wirklich selbst Werke schaffen, allenfalls per Knopfdruck kopieren. Selbst gutes Werkzeug macht noch keinen Künstler. Das ist auch das Problem der Masse photoshopgläubiger Nachwuchsgrafiker.

Nun ist ein guter Handwerker umgekehrt aber nicht automatisch schon gleich Künstler, allenfalls Kunsthandwerker (und als einen solchen sehe ich mich auch eher denn als Künstler). Damit aus einem Handwerker ein Künstler wird, bedarf es noch zweier weiterer Zugaben: Die erste ist Professionalität. Sie macht aus einem einfachen Handwerksgesellen einen Meister. Ein Meister beherrscht nicht nur die Grundlagen seines Faches und wendet stupide Regeln an, er beherrscht sie und kann – um seine eigene Professionalität zu steigern – die Regeln auch gezielt variieren oder ganz beiseite lassen. Gleichzeitig wird ein echter Meister mit seinen Werken nie ganz zufrieden sein, einem Torquato Tasso gleich strebt er nach Überbietung, Perfektion, danach, etwas Vollkommenes zu schaffen.

Womit wir dann bei der zweiten Voraussetzung für echtes Künstlertum wären: Originalität. Mit Originalität im Sinne von Meisterschaft meine ich nicht, dass im Kunstwerk eine einzigartige, neue Idee erfunden wird, sondern dass die Ausarbeitung des Kunstwerkes in einer das Normale überbietenden Weise über bloßes handwerkliches Geschick hinausgeht: dass das Kunstwerk wirklich ganz verkörpert, was es zum Ausdruck bringen will. Dazu reicht es nicht, vollkommen Regeln von Handwerk und Ziemlichkeit zu befolgen, nein, beides muss für jedes individuelle Werk neu überdacht und angepasst werden. Und das genau ist echte Kunst: Die Indienststellung von Materie und persönlicher Schaffenskraft für ein konkretes Werk. Ein Meister wie Stradivari hat kein neues Konzept erfunden – Geigen gab es schon vorher – sondern seine Meisterstücke sind fast vollkommene Konkretisierungen des Konzepts „Geige“.

Ein Problem von viel mittelmäßiger „moderner Kunst“ ist, dass die Idee überbewertet und die Konkretisierung oft vernachlässigt wird. Meiner Ansicht nach kann es aber echte Kunst ohne handwerkliche Könnerschaft nicht geben. Nun ist mir durchaus bewusst, dass sich diese doch eher traditionelle Kunstauffassung nicht im Einklang mit den meisten Kunsttheorien der Moderne befindet, jedoch stehe ich damit nicht ganz allein da, ähnliches findet sich auch beim Kultursoziologen Richard Sennett in seinem Essay „Handwerk“ nebst einer Kritik an der doch recht verkopften Schaffensauffassung des 20. Jahrhunderts, wobei er als ein Lebensbeispiel dafür auch manch moderne, im Studierstüblein entworfene Architektur bringt, die sich später als wenig lebenstauglich erweist – für Sennett unter anderem auch mahnendes Beispiel für kreative Produktion, die sich von der Welt entfremdet, indem sie sich nur auf interne Regelmechanismen verlässt (verkörpert in Sennetts Beispiel durch rein virtuelle CAD-Systeme, die traditionelle Ortsbegehungen oft ersetzen).

„Erlaubt ist, was sich ziemt“, diese Beschränkung des Künstler Tasso durch die Prinzessin in Goethes Drama ist denn auch für die meisten Kunstschaffenden genauso aktuell wie damals, nur dass es hier kein Fürstenhof mehr ist, der die Etiquette festlegt und den Kunstschaffenden darauf festlegen will, sondern die Kunstschaffenden selbst, die sich gegenseitig mit verkopften Ästhetikkonzepten malträtieren, was leider allzu oft von der Tatsache ablenkt, dass viel aktuelle „Kunst“ handwerklich schlecht gemacht ist und die Idee der Moderne dann als Feigenblatt dafür eingesetzt wird, zu verbergen, was alles im Werk nicht vorhanden ist.

Man hält handwerklichen Kunstkonzepten oft entgegen, dass sie sich angeblich in eine Zeit der Vormoderne zurücksehnen, in der alles besser gewesen wäre. Genau das tut ein Meister aber nur in gewissem Grade, nämlich insofern, als die Orientierung an älteren Kunstwerken und Meistern ihn selbst bei seinem Kunstschaffen weiterbringt. Eine gewisse Traditionsbereitschaft gehört zu Meisterschaft also tatsächlich hinzu. Dazu kann es auch nützlich sein, die Werke alter Meister zu studieren und ihre Methoden imitierend nachzuahmen – wobei man sich allerdings bewusst sein muss, dass echte Meister die meisten ihrer Geheimnisse mit ins Grab genommen haben, denn was ein Meisterwerk ausmacht, ist eben nicht nur ein Satz wiederholbarer Regeln, sondern Erfahrung und ihre jeweils an konkrete Bedürfnisse gebundene Umsetzung. Daher reicht es nicht aus, Vergangenes zu wiederholen, wenn man Neues erschaffen will, schon allein deswegen, weil damit der Aspekt der materiellen Konkretheit jedes einzelnen Werkes missachtet würde. Dementsprechend reicht es aber genauso wenig aus, aktuelle Ästhetik oder bloße persönliche Einfälle in Form zu pressen – und nicht einmal das Wissen um die Zukunft würde daran etwas ändern: Denn jedes Meisterwerk steht zeitlos für sich. Um eines zu schaffen, muss man individuell vorgehen – individuell nicht im Sinne des künstlerischen Egos, sondern individuell im Sinne der Erschaffung des Einzelkunstwerkes, was im Zentrum stehen sollte.

Jedenfalls müssten wir viel mehr und intensiver wieder mit den einzelnen, konkreten, materiellen Dingen arbeiten, damit Kunst gefällig werden kann. Denn „was gefällt“, das passt, ist stimmig. Das hat mit Regeltreue nichts zu tun und auch nicht unbedingt mit Zeitgeschmack, sondern, wenn es echt ist, mit Klassik, die über ihre Zeit hinaus weist. Wenn das gelingt, ist Kunst auch weit mehr als nur ein performativer Akt: ein Gesamtkunstwerk, das Staunen erregt, das „gefällt“.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.