Wie die Zeit vergeht…

Die Bibel ist eine unerschöpfliche Ideensammlung in fast jeder Hinsicht, so findet sich in der Offenbarung des Johannes, 10,6 eine vieldiskutierte Stelle über die Zeit, die zu mancherlei Spekulationen über Raum und Zeit Anlass gab: „chronos ouketi estai“.

Chronos ouketi estai

In der Offenbarung des Johannes, volkstümlich auch oft als „Apokalypse“ bezeichnet, heißt es:

„Und der Engel, den ich sah stehen auf dem Meer und der Erde, hob seine Hand gen Himmel und schwur bei dem Lebendigen von Ewigkeit zu Ewigkeit, der den Himmel geschaffen hat und was darin ist, und die Erde und was darin ist, und das Meer und was darin ist, dass hinfort keine Zeit mehr sein soll“ (Offb 10,5-6, Lutherbibel 1912)

Die Stelle wurde viel diskutiert und oft auch abgebildet in Form des Engels, dessen Erscheinung in den vorangehenden Versen 1-2 beschrieben wird:

„Und ich sah einen andern starken Engel vom Himmel herab kommen; der war mit einer Wolke bekleidet, und ein Regenbogen auf seinem Haupt und sein Antlitz wie die Sonne und Füße wie Feuersäulen, 2 und er hatte in seiner Hand ein Büchlein aufgetan. Und er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer und den linken auf die Erde“ (Offb 10,1-2)

Für die philosophisch-literarischen Eklektizisten im frühen 20. Jahrhundert bot die Aussage zur Zeit, dass sie einmal nicht mehr sein wird, Anreiz für vielerlei interessante Spekulationen. (Das waren die literarischen Kreise, die im Prinzip Großteile unserer heutigen Populärkultur erdachten – von Fantasy bis zu Science Fiction). Raum und Zeit waren beliebte Spekulationsobjekte. Ihr absoluter Charakter wurde hinterfragt und im selben Umfeld auch mit moderneren Auffassungen über die physikalischen Eigenschaften der Raumzeit verglichen, gerade auch mit der aufkommenden Relativitätstheorie. Zeitreisen und Multiversen wurden zu literarischen Topoi.

Allein, so schön und gewinnbringend der Gedanke auch sein mag, biblisch ist er im Falle von Offb 10,6 nicht, fußt er doch wohl recht eindeutig auf einer Fehlübersetzung des altgriechischen Originals. Dort heißt es zwar „chronos ouketi estai“ – „Zeit wird nicht mehr sein“ – doch dürfte mit „chronos“ nicht die physikalische Zeit gemeint sein, sondern der Gegensatz zum anderen biblischen Heilsbegriff, dem „kairos“, der Heilszeit. Eine interessante Aufschlüsselung der beiden antiken Begrifflichkeiten für moderne Menschen findet sich in Giorgio Agambens lesenswerten Essay „Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief“.

„Chronos“ ist keine messbare Zeit, sondern die Menge an Zeit, die bis zum Anbrechen der Heilszeit noch vergehen muss, also eine Art Frist, Aufschub. In modernen Bibelübersetzungen wird Offb 10,6 folgerichtig auch entsprechend übersetzt mit „Die Frist ist abgelaufen“ oder „Es wird keinen Aufschub mehr geben“.

Das entzaubert die ganze Angelegenheit nun ein wenig und ernüchtert jene, die sich fantasievolle Gedanken darüber gemacht haben, wie es mit Zeit und Ewigkeit im DANACH aussehen könnte. Eine physikalische Auflösung der Raumzeit lässt sich zumindest aus Offb 10,6 nicht ableiten.

Time no longer…

Aber auch aus falschen Übersetzungen kann man interessante Geschichten bauen, die ihrerseits eine gewisse Lebensweisheit enthalten. Eine der berühmtesten davon heißt „Tom’s Midnight Garden“ und stammt von der britischen Autorin Philippa Pearce.

Pearce schrieb ihr tiefsinniges Kinderbuch 1958 und griff darin auf die zeitgenössische Fehlinterpretation zurück, die in Form einer mysteriösen alten Standuhr mit apokalyptischem Engel und Aufschrift „Time no longer“ den Erzählkern bildet. Diese befindet sich in einem alten englischen Herrenhaus, dessen Garten nachts ein seltsames Eigenleben entfaltet. Hier entwickelt sich eine rührende Geschichte über zwei zeitlos junge Menschen, Tom und Hatty, die einander näher kommen können, weil Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen. Die deutsche Übersetzung hat den Grundgedanken etwas stärker in den Vordergrund gestellt im Titel „Als die Uhr dreizehn schlug“.

Die Zeit vergeht ... aber wie? (Grafik: Martin Dühning)
Die Zeit vergeht … aber wie? (Grafik: Martin Dühning)

Pearce erhielt für ihre Erzählung zurecht die Carnegie Medal. Ich finde, die Erzählung spielt mindestens in einer Liga mit James Barries „Peter Pan“ – der auch das Thema Zeitlosigkeit behandelt, allerdings vergleichsweise fantastisch und letztlich tragisch – denn für seine Unsterblichkeit zahlt Peter Pan einen hohen Preis, den des Vergessens, weshalb er letztlich auch keinerlei bleibende Beziehungen eingehen kann. In der Erzählung von Pearce wird dagegen ein Raumzeit-Konzept vorgestellt, das sich an die Relativitätstheorie anlehnt, also eine gewisse „wissenschaftliche“ Plausibilität aufweist und an das damalige Bibelverständnis, also etwas „realistischer“ ist – zudem ist es definitiv auch menschlicher, denn Erinnerung und Sinnhaftigkeit sind tragende Elemente darin. Nur so ist aber wirkliche Beziehung möglich. Es gibt mehrere Verfilmungen der preisgekrönten Erzählung, die jüngste stammt von 1999 und seit dem Jahr 2000 existiert auch ein Bühnenstück.

Ob der Himmel vielleicht so aussieht? Ein zeitloser Garten der Erinnerungen? Zumindest Offenbarung 10,6 lässt sich sicher nicht in diese Richtung interpretieren. Letztlich entzieht sich die Heilszeit auch dem Zugriff der menschlichen Vernunft, wie sie gestaltet ist, kann man weder wissen noch begreifen. (Und manchmal frage ich mich oft auch ernstlich, ob es überhaupt ein Leben VOR dem Tod gibt, dass wir uns über das DANACH noch Gedanken machen müssten.)

Den Engeln gleich

Allerdings gibt es noch eine andere Stelle in der Bibel, die sich eigentlich ziemlich eindeutig genau mit dem Thema beschäftigt, wie es mit Zeit und Lebendigkeit danach aussieht. Sie findet sich allerdings nicht im Buch der Offenbarung und auch nicht bei Paulus, sondern beim Evangelisten Lukas, Kapitel 20, als Jesus einem Einwand gegen die Auferstehung der Toten kontert. Die Sadduzäer, für die der Glaube an eine Auferstehung der Toten unvernünftig ist, bringen als Gegenbeweis gegen die Annahme eines Lebens nach dem Tode eine Frau, die jeweils nach ihrer Verwitwung neu geheiratet hat und schließlich im Jenseits sieben Männer gleichzeitig hätte, was ziemlich eindeutig gegen das biblische Gebot der Monogamie verstieße (Lk 20,27‑36).

Jesus antwortet ihnen:

„Heiraten ist eine Sache für die gegenwärtige Welt. Aber die Menschen, die für würdig gehalten werden, in der kommenden Welt leben zu dürfen und von den Toten aufzuerstehen, werden nicht mehr heiraten. Sie können dann auch nicht mehr sterben, sondern sind den Engeln gleich. Als Menschen der Auferstehung sind sie dann Söhne Gottes.“ (Lk 20,34-36)

Man hat das in der westlichen Moderne oft nicht ganz zutreffend darauf reduziert, dass es im Jenseits keine Sexualität mehr gäbe, weil Engel ja keusche, geschlechtslose Wesen seien. In der Antike sprach man allerdings auch Engeln Libido zu, das klingt z. B. noch bei Paulus an, wenn er Frauen empfiehlt in „Rücksicht auf die Engel“ im Gottesdienst Schleier zu tragen (1 Kor 11,10). Darüber, ob Engel Körper haben oder nicht, wurde lange gestritten. Es bleibt festzuhalten, dass wir uns Körper als Materie vorstellen und diese wiederum an physikalische Gesetzmäßigkeiten gebunden wäre, die für die Engel aber doch – wenn sie ewig sind – nicht zutreffend sein können. Umgekehrt wäre es körperlosen Wesen nicht möglich, Beziehungen zu knüpfen, wie sie in den meisten Engelsbegegnungen in biblischen Geschichten aber vorausgesetzt werden. (Ganz zu schweigen von dem unbiblischen Unsinn, dass Menschen nach ihrem Tod zu androgynen, kleinen, geflügelten Kinderwesen würden und mit Harfen auf Wolken herumschrammen, was letztlich nur auf mystische Spekulationen des Theosophen Emanuel Swedenborg  und die verklemmte, rückwärtsgewandte Devotionalienkunst des 19. Jahrhunderts zurückgeht.)

Dagegen ignoriert man meist, dass Engel durchgehend eine Eigenschaft haben, nämlich „Zeitlosigkeit“. Nicht nur, dass sie nicht altern oder „ewig“ sind, sie beherrschen auch ein paar Fähigkeiten, die die Grenzen von Raum und Zeit sprengen, zum Beispiel Bilokation (also gleichzeitig an mehreren Orten sein). Das wiederum geht dann wieder stark in Richtung, dass Zeit und Raum keine Hindernisse mehr sind.

Was hat das mit dem Heiraten zu tun? Monogamie macht genau dann Sinn, wenn Beziehung frei von Eifersucht oder Untreue in einer begrenzten, linearen Lebenszeit ermöglicht werden soll, denn man kann nicht mehrere Menschen gleichzeitig in voller Liebe beziehungstreu sein. Auch die Reproduktion mit der zugehörigen familiären Sozialisation ist notwendig nur in einem Leben, das endlich und sterblich ist. Wenn beides wegfällt, Linearität und Endlichkeit von Zeit, braucht es auch die Institution der Ehe nicht mehr. Denn Beziehung ist dann nicht mehr auf solche Hilfen angewiesen, sie gelingt dann auch ohne,  völlig grenzenlos.

Das geht in die gleiche Richtung wie die Beziehungen in „Tom’s Midnight Garden“, allerdings noch weiter und wie das letztlich funktionieren soll, entzieht sich ab einem gewissen Abstraktionsgrad dem menschlichen Denken. Aber mit dem Kinderbuch kann man sich zumindest ein bisschen vorstellen, wie es sein könnte.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.