Saxana: Abgesang auf das tschechische Märchenreich

Die tschechischen Märchengeschichten von Milos Macourek haben eine ganze Fernsehgeneration geprägt. Der 2002 verstorbene Autor hinterließ noch ein Werk, das 2011 unter dem Titel „Saxana und die Reise ins Märchenland“ verfilmt wurde, ein Abgesang auf Macoureks vielgeliebte Fantasiewelt. Regie führte noch einmal Václav Vorlícek. Die deutsche DVD ist am 2.10.2013 erschienen.

Mit dem Meisterwerk „The Tempest“, so sagt man, habe sich seinerzeit William Shakespeare als Bühnenautor verabschiedet, habe er wie der alte Zauberer Prospero gegen Ende des Dramas seine Künste aufgegeben. Ganz so grandios wie der legendäre Shakespeare verabschiedete sich der tschechische Kinder- und Märchenfilmautor Milos Macourek natürlich nicht – und wenn, tat er dies wohl schon 1993 symbolisch am Ende von „Die Rückkehr der Märchenbraut“, als er Märchenkönig Hyazinth I. seinen Hofzauberer Vigo darüber belehren lässt, dass Märchen nie enden und immer auch einen Bösewicht brauchen – und dann den soeben erst besiegten Zauberer Rumburak wiederbelebt. Eine Fortsetzung schien offen, allerdings starb 2002 nicht nur Drehbuchautor Macourek, sondern mit dem Schauspieler Vlastimil Brodský auch einer berühmtesten tschechischen Charakterdarsteller, der nicht nur König Hyazinth in der Märchenbraut, sondern auch viele andere prominente Figuren im tschechischen Film verkörperte.

Vergessen wurde das tschechische Märchenuniversum aber nie.

Seine Höhepunkte lagen da aber schon drei Jahrzehnte zurück. Meilensteine für das deutsche Publikum waren sicher die „Die Märchenbraut“ (1979), die mit „Der Zauberrabe Rumburak“ (1985) und „Die Rückkehr der Märchenbraut“ (1993) mehrere Fortsetzungen erlebte, die allerdings nie den Ruhm des Originals erreichten oder auch die Fernsehserien „Der fliegende Ferdinand“ (1983) oder „Der Wunschkindautomat“ (1984).

Saxana und die Reise ins Märchenland

"Saxana und die Reise ins Märchenland" (2011) ist der jüngste Ableger aus dem tcheschischen Märchenfilmuniversum - und vielleicht auch sein Ausklang.
„Saxana und die Reise ins Märchenland“ (2011) ist der jüngste Ableger aus dem tchechischen Märchenfilmuniversum – und vielleicht auch sein Ausklang. Die deutsche DVD-Fassung ist bei Constantin Film erschienen.

Seinen ersten internationalen Coup landete Milos Macourek wohl noch viel früher mit „Das Mädchen auf dem Besenstiel“ (1972). Genau dazu ist „Saxana und die Reise ins Märchenland“ (Originaltitel: Saxána a Lexikon kouzel) die Fortsetzung. Die Story ist schnell erzählt:

40 Jahre nach den Geschehnissen aus dem ersten Film gerät die kleine Saxana, Drittklässlerin und Tochter der Hexe von damals, durch Zufall ins Märchenreich und muss dieses und seine Einwohner vor einem Bösewicht aus der Comicwelt retten. Als Nebenstory gerät versehentlich auch ihre Männer wildernde Tante ins Märchenreich und verkompliziert alles. Bei dem Versuch, die Dinge wieder ins Reine zu bringen, begegnet die kleine Saxana einer ganzen Menge seltsamer Märchenfiguren.

Das Abenteuer der kleinen Saxana ist, wenn man genau hinsieht, daher noch mehr als bloß eine Fortsetzung der Hexenerzählung von 1971. Die Geschichte ist auch Abschied der alten Schauspieler und der Crew vom Märchenland. Denn nicht alles, was sich in „Saxana“  findet, gehört zum Vorgänger. Einiges ist auch anderen Werken von Milos Macourek entliehen und noch eine weitere Koryphäe des tschechischen Märchenfilms ist mit von der Partie: Großmeister Václav Vorlícek, der nicht nur in allen vorgenannten Werken die Regie übernahm, sondern auch in den legendären Märchenklassikern „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ (1973), „Wie man Dornröschen wachküsst“ (1978) und vielen anderen, die noch heute das Weihnachtsfernsehen bevölkern. Auch aus seinem Werk sind viele Anleihen entnommen und er ist es letztlich, der mit „Saxana und die Reise ins Märchenland“ seine Abschiedsvorstellung gibt.

Der Film als Rückschau

Für sich allein betrachtet erschien der jüngste Märchenfilm „Saxana“ vielen neueren Zuschauern etwas „wirr“. Manch Rezensent stellte gar den Intellekt des beim Dreh schon 81jährigen Regisseurs in Frage. Dabei stammt das Drehbuch wie oben erwähnt nicht von Vorlícek, sondern aus dem Nachlass von Macourek und trägt eindeutig die gleiche Handschrift wie alle filmischen Vorgänger.

Auch die klassischen Werke setzten sich meist collageartig aus kulturellen Versatzstücken zusammen, woraus sich allerlei komische Situationen entwickelten. Macourek und Vorlícek übten dabei immer wieder auch unterschwellig Kritik an der materialistischen Populärkultur: In der Märchenbraut von 1978 waren es noch Disney und Phantomas, die augenscheinlich nicht so ganz ins Märchenreich passten, in ihrer Neuauflage von 1993 wird die Spielzeugindustrie in ihrem Bemühen kritisiert, gedankenlos neue platte Mythen aus reinen Profitinteressen zu kreieren und bei Saxana 2011 ist es ein chauvinistischer, Banken plündernder(!) Comicbösewicht, der das Märchenreich übernimmt. Zu den inhärenten Grundgesetzen des Märchenkosmos seit der Märchenbraut scheint zu gehören, dass alle Ideen aus der Menschenwelt sich auch in der Märchenwelt materialisieren. Die Menschen tragen also eigentlich Verantwortung dafür, was sie erdenken – werden dieser aber nie gerecht, worunter die Märchenfiguren immer zu leiden haben. Das ist ein jüngerer Gedanke, der nun auf die Fortsetzung der Hexengeschichte übertragen wird.

Wie in fast allen Vorgängern geraten die Hauptakteure unfreiwillig und per Zufall in die Fantasiewelt – bei Saxana ist es das versehentliche Lesen von Mamas altem Zauberbuch auf dem Dachboden.

Das Märchenreich ist jetzt eine Unterwelt, die sich in einem gewaltigen Höhlensystem befindet. Es wird im Film nicht angesprochen, sieht aber fast so aus, als ob sich die Märchenwesen hierhin zurückgezogen haben. Neben Puppengestalten, die Jim Hensons Wuschelmonstern ähneln und allerlei CGI-Kreaturen wird es auch von Wesen bevölkert, die etwas an Tim Burtons Corps Bride erinnern. Einer der Haupthandlungsorte ist eine etwas morbide Bar, in der die Märchenfiguren herumlungern und nichts tun. Der Barkeeper ist ein Skelett namens Hain, also der personifizierte Tod. (Man könnte das jetzt symbolisch weiter ausdeuten…)

In dieser Zusammenstellung wirkt die Geschichte für sich genommen doch etwas „zerfallen“. Doch übersieht man dabei leicht, dass der Film eben nicht nur an seinen Vorgänger von 1971 anschließen will, sondern eine Verbeugung vor vier ganzen Jahrzehnten des tschechischen Märchenfilms darstellt und wahrscheinlich auch einen endgültigen Abschied des Regisseurs und seiner Crew. Deshalb packt er nicht nur vergleichsweise moderne CGI-Effekte in den Film – nicht wenige der Darsteller sind komplett computeranimiert, was in dieser Form eine stilistische Neuerung darstellt. Es werden wohl auch nochmal alle Darsteller des klassischen tschechischen Märchens aufgeboten, die 2011 noch zu haben waren.

Neben Petra Cernocká, die 1972 die „alte“ Saxana spielte und nun die Mutter ist und einigen wenigen anderen Darstellern aus dem ursprünglichen Film, spielt als Saxanas Onkel auch Petr Nározný mit, der aus vielen anderen Produktionen Vorlíceks bekannt ist. Dafür, dass von den anderen Schauspielern von 1972 der beliebte und prominente Vladimír Menšík leider schon Ende der 80ziger verstorben war (er wird immerhin in der Rückblende im Vorspann gezeigt), geben sich auch mehrere Personen aus dem Märchenbraut-Universum ein Stelldichein: Als Märchenfigur findet sich neben dem kopflosen Ritter und dem Wassermann besonders prominent auch der Hofzauberer Vigo wieder, dessen Rolle allerdings diesmal von Bronislav Poloczek gespielt wird, da der ursprüngliche Schauspieler, Jirí Sovák, 2000 verstarb. Auf den ersten Blick nicht wiederzuerkennen ist Jiří Lábus, diesmal in der Rolle von Verleger Pleskot. Deutsche Zuschauer kennen ihn wohl nur deutlich jünger aus seiner Paraderolle als Zaubererbösewicht Rumburak mit Bart und Pagenschnitt. Bei Saxana spielt er diesmal keinen magischen Charakter, sondern einen knausrigen Kleinkapitalisten, der lieber gewinnbringende Gewaltcomics als Märchenbücher verlegen möchte.

Die Liste der bekannten Darsteller und Anspielungen ließe sich noch weiter fortsetzen…

Endgültiger Abschied vom Märchenland

Soviel Reminiszenz ist für Fans wirklich schön, zeigt aber auch ein wenig das Problem, unter dem der Film letztlich leidet: Es ist zuviel! In dieser Zusammenstellung ist er weniger ein unbeschwerter Kindermärchenfilm als vielmehr eine verfilmte Fan-Convention für ältere tschechische Märchenfilmliebhaber. Vom vermittelten Inhalt her ist er vielleicht auch ein filmisches Testament mit ideenpolitischer Botschaft.

Die einzige erkennbar junge Schauspielerin ist „die kleine Saxana“, gespielt von Helena Novackova. Und obwohl die junge Dame wirklich gut spielt und eigentlich ja auch noch die titelgebende Hauptrolle innehat, gehen sie und ihr Märchenabenteuer zwischen den rein computeranimierten Figuren einerseits und den alten Koryphäen und den vielen Reminiszenzen andererseits definitiv unter. Sie schauspielert da etwas einsam als einziges wirklich junges Gesicht auf weiter Flur, auch fehlt ihr ein wirklich lebendig wirkender Kompagnon, mit dem man sich als männlicher junger Zuschauer identifizieren könnte. Die CGI-Gestalten sind zwar putzig und wirklich nicht schlecht gemacht, aber im Vergleich mit dem Charakterspiel echter menschlicher Schauspieler zu steril und künstlich. Gerade das lebendige Charakterschauspiel gepaart mit Situationskomik war immer eine große Stärke des tschechischen Films, hier fehlt es in der jüngeren Generation. So fehlt dem Film vor allem jugendliche Frische und Lebendigkeit. Das ist sehr schade und man vertat damit wohl leider auch die Chance, dem geliebten tschechischen Märchenfilm eine Zukunftsperspektive zu eröffnen, indem man ihn für die heutige Kindergeneration öffnet. Denn so gleicht der Film leider irgendwie einer Abschiedsvorstellung einer untergehenden Welt, die zur bloßen Erinnerung verblasst.

Das spiegelt sich sogar in der Story wieder: Denn mit dem neuen König des Märchenreiches, dem Direktor der Hexenschule, der am Schluss nicht ganz zufällig als „Hyazinth II.“ (Märchenbraut!) gekrönt wird, wird auch nur ein altes Mitglied der alten Generation gekrönt. Zumal der Hexenschulmeister 1972 noch der Bösewicht war, vor dem die alte Saxana in die damals noch sozialistische Menschenwelt floh.

Überhaupt hat sich seither das Verhältnis von Märchen- und Menschenwelt seltsam umgekehrt: Seit den späten 80zigern muss die Märchenwelt regelmäßig gegen kapitalistische Mächte aus der Menschenwelt verteidigt werden und befindet sich auf dem Rückzug. Das hat sich bis 2011 offenbar fortgesetzt: Wenn man in einer Sache jetzt schon den bloßen „Schulmeistern“ das Königszepter übergibt (weil sonst keiner mehr da ist) kann das ja nie gut ausgehen, das gilt in der Literatur sogar sprichwörtlich. Auch die Märchenfiguren selbst sind durch die ganze Geschichte hindurch weder vom angekündigten neuen König, noch vom Fortbestand ihrer Welt überzeugt. Wohl deshalb tun sie auch nichts und nehmen den Bösewicht aus der Comicwelt mit seinen Bosheiten erstaunlich gelassen hin. Althexe und Mutter Saxana gibt kurz vor Schluss ziemlich entnervt mit ihrem Hexenbuch die (ihrer Meinung nach) letzte Verbindung der Menschenwelt ins Märchenreich an ihren alten Schuldirektor ab und schließt für sich und ihre Familie das Kapitel Märchenwelt.

Damit kommt das alte Märchenuniversum insgesamt recht konsequent zu einem Abschluss, der sich schon in den Vorgängern etappenweise angekündigt hatte: Es verabschiedet sich. Eigentlich sehr schade…

Dialektale Märchenwesen in der deutschen Synchro

Abgesehen davon gibt es noch ein kritisches Wort zur deutschen Synchronisation zu sagen: Es tut dem Film als Märchen keinesfalls gut und wirkt weniger komisch, als eher lächerlich, dass die Märchenfiguren verschiedene deutsche Dialekte sprechen. Dass der Comicbösewicht ein breites Österreichisch spricht, mag ja vielleicht noch dem Drehbuch geschuldet sein. Aber warum muss der Barkeeper Tod, Hain, Plattdütsch snacken? Auch scheint man sich doch bisweilen bemüßigt gefühlt zu haben, in der Synchro noch einige zusätzliche Witze einzubauen, was letztlich eher platt wirkt, selbst wenn es auf Plattdütsch geschieht.

Ton und Bild der deutschen DVD-Ausgabe sind sonst insgesamt eher gut, allerdings nur mit deutscher Tonspur, ohne das tschechische Original. Als Beigabe enthält die DVD nur einige Trailer aus dem weiteren DVD-Angebot von Constantin Film, welche „Saxana und die Reise ins Märchenland“ im deutschen Raum vertreiben. Als Märchenfan hätte man sich vielleicht noch etwas zu Drehbuchautor und Regisseur gewünscht – schließlich war es wohl das Abschlusswerk der beiden.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.