Ich lebe DENNOCH

Eine duftige Heckenrose in flauschigem Heckenrosenrot...
Eine duftige Heckenrose in flauschigem Heckenrosenrot...

Vor 40 Jahren hieß es, meine Eltern könnten nie Kinder haben. Es gibt mich DENNOCH. Als ich mit vier Jahren lebensgefährlich an einer  Hirnhautentzündung erkrankte, die nicht rechtzeitig erkannt wurde, hieß es, ich würde es nicht überleben. Ich lebe DENNOCH.

Ich war nie unumstritten. So lange ich seither lebte, sagte man mir in regelmäßigen Abständen meinen nahenden Untergang und mein unausweichliches Scheitern voraus. Untergegangen und gescheitert sind seither immer andere, Ironie des Schicksals: oft auch jene, die mir den Untergang androhten. Drei meiner ehemaligen Mitschüler, nicht die schlechtesten übrigens, sind seither gestorben, der erste mit 13. Und leider auch einige meiner Freunde. Ich lebe DENNOCH.

Eine duftige Heckenrose in flauschigem Heckenrosenrot...
„Die Ros ist ohn warumb; sie blühet weil sie blühet, sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.“ – Angelus Silesius

Zugegeben, es ist nicht besonders angenehm, DENNOCH zu leben. Dass mich Mitmenschen immer wieder spüren ließen, ich sei ein Absonderling, ein Spinner, ein Langweiler, ein Nerver, jemand, der mit Mühe nur geduldet wird, ein Regelverstoß, eigentlich eine Beleidigung für die logische Vernunft, das tat weh. Das machte mein Leben zu keinem angenehmen Spaziergang. Im Nachhinein freilich, in der Retrospektive, stand die Vernunft meist doch eher auf meiner Seite, erwies sich meine Intuitionen als richtig und wenn ich auch nie Rückenwind hatte, ich fand immer den Weg und was noch viel wichtiger ist: letztlich hatte ich Deckung in der Not. Aber was hilft einem das schon für den Moment. Angenehm war es nie. Ich lebe DENNOCH.

Zwar war ich stets wandelbarer und wesentlich stärker, als man mir zutraute, aber wurde oft vielseitig demontiert und in der Regel unterschätzt. Taktisch war dies bisweilen ein enormer Vorteil, in menschlicher Hinsicht oft armselig. Ich lebe DENNOCH.

Selbst meine größten Erfolge waren nie unumstritten. Meist hieß es, ich sei letztlich die ZWEITE Wahl gewesen, oder nur ein Zufall. Oder es musste halt so kommen, wie es kam. Anerkennung? Dank? Oft Fehlanzeige. Ich lebe DENNOCH.

Es ist letztlich nicht wichtig, ob man im Leben für das, was man tut, wertgeschätzt wird oder ob einem Jasager beiseite stehen. Wichtig ist vielleicht, wie aufrichtig man sich selbst ist. Das Leben darf nie Lüge sein, denn sonst ist es nicht das Leben; man darf nie zurückfallen auf irgendwelche Vorurteile, die einem am Leben hindern. Frei mit Kant gesprochen: ein gutes Leben ist ein pflichtbewusstes Leben – und pflichtbewusst sein heißt, sein Denken, Fühlen und sein Handeln nicht von Vorteilen oder Annahmen abhängig zu machen, sondern sich UNBEDINGT seines Verstandes zu bedienen. Dieser, so denke ich, besteht sowohl aus einem denkendem als einem fühlenden Anteil – letztlich bedeutet es also, schlicht aufrichtig zu LEBEN.

Intellekt und Gefühl, beide zusammen, mit biografischen Erinnerungen und sozialen Beziehungen, ergeben die lebendige Person. Kein Bild und kein Ideal, nicht unbedingt einmal ein Ziel. Und diese Person ist vergänglich. Doch lebt sie DENNOCH.

Es ist letztlich nicht wichtig, wie ein Leben von außen oder innen bewertet wird, wie lange es währt oder wie breit – und vielleicht nicht mal, wie tiefgründig. Es ist nicht wichtig, ob sich irgendjemand mal daran erinnert. Vergessen ist irrelevant: Denn Leben ist immer JETZT. Es geht nicht um irgendwelche Highscores, es geht nicht darum, irgendein Ziel zu erreichen. Nicht Macht und nicht Wohlstand machen ein Leben aus, sondern schlichtweg das eine: dass es EXISTIERT. Denn denkbar und möglich wäre vieles, und vieles, was vielleicht viel größer, vollkommener und ewiger wäre, kann man sich vorstellen. Aber das ist alles irrelevant: ich bin, der ich bin. Ich lebe. Dennoch.

Nein, es ist letztlich nicht wichtig, ob man im Leben glücklich ist oder war. Das Glück wird von vielen überschätzt. Es ist nicht planbar, sondern eine zufällige Fügung. Drum nennt man es Glück. Aber letztlich ist es nicht wichtig. Denn Glück macht ein Leben nicht gelungener, moralischer oder gar besser, sondern nur glücklicher. (Gerade Heilige lebten selten glücklich!) Einzig und allein wichtig ist es im Leben, zu LEBEN.

Das allein schon mach seine Würde aus: ZU LEBEN.

DENNOCH zu leben.

Und das gilt für alle Menschen, die sind und leben, egal wie, wo und wie:

LEBT einfach DENNOCH!

Über Martin Dühning 1523 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.