Pfarrer Josef Ruby war, was niemand leugnen wird, ein streitbarer Mann. Doch wird es diesem durchaus außerordentlichen Menschen nicht gerecht, wenn man ihn darauf reduziert.
Josef Ruby wurde am 15. August 1919 in Mechernich geboren, als sechstes von zwölf Kindern in einer religiösen katholischen Familie. Viele seiner Geschwister ergriffen später wie er eine kirchliche Laufbahn, fünf davon wurden Priester. Josef Ruby wurde am 1. August 1948 zum Priester geweiht, als Mitglied der Abtei Maria Laach, wo er zuvor auch Philosophie und Theologie studiert hatte. Dort promovierte er auch zum Doktor der Theologie. Später verließ er das Kloster und ging nach Hildesheim, wo er 13 Jahre lang eine neu gegründete Pfarrei in einem Brennpunktviertel mit aufbaute und betreute.
Im Jahr 1976 wechselte er ins Erzbistum Freiburg, ins vergleichsweise beschauliche Lauchringen und betreute dort mehr als 20 Jahre lang die Pfarreien St. Andreas Oberlauchringen und Herz-Jesu Unterlauchringen. Für die beiden Pfarreien hat er unbestreitbar viel geleistet, auch weil er charakterlich sehr durchsetzungsfähig war und sich nicht so einfach aufs Kreuz legen ließ. In einigen Fällen hat das den Pfarreien sehr gut getan, doch schuf er sich damit auch Feinde und polarisierte. Nach einem ausufernden innergemeindlichen Streit war er 1997 gezwungen, die Pfarrei abzugeben. Ich denke, man kann sich heute, bald 20 Jahre später, kaum noch vorstellen, wie gespalten die Meinungen über ihn waren, letztlich blieb darüber leider nicht viel übrig vom Andenken an seine Leistungen.
Zu seinen Leistungen zähle ich die umfassenden Renovierungen an den beiden Pfarrkirchen, die bei seinem Amtsantritt baulich teils in arg bedenklichem Zustand waren. Auch modernisierte er in den 70er Jahren die beiden Pfarreien seelsorgerisch und liturgisch – die Liturgie lag ihm besonders am Herzen. Er schwärmte damals und in den 80ern von Taizé. Er war es auch, der den spießbürgerlichen Brauch, Kommunionkinder in kleine Hochzeitsanzüge zu stecken, abschaffte und an Taizé orientierte weiße Kutten einführte, über ihn kam ich erstmals in Berührung mit dem Neuen Geistlichen Liedgut. Er selbst sang so gerne und gut, wie er predigte. Er hatte eine warme, klare und charaktervolle Stimme.
Im offiziellen Geschichtsbild von heute erinnert man sich nur selten noch an seine Progressivität, wobei er durchaus sehr genau zwischen „Moden“ und sinnvollen Neuerungen unterschied. Er war ein innerkirchlicher Reformator nach dem Vorbild seines einstigen Ordens. Die Umgestaltung der St. Andreaskirche war beispielsweise eine Rekonstruktion der alten Malereien im Beuroner Stil – wie oben erwähnt, er war früher einmal Benediktiner! – die Einheit von Sakralbau und Liturgie lag ihm also besonders am Herzen. Für meinen Geschmack war St. Andreas nach der Renovierung einen Tick zu bunt, was sich gerade daraus ergab, dass Pfarrer Ruby hatte vermeiden wollen, dass die Kirche wieder zu dunkel würde. Doch durch die hellen Pastellfarben fehlt eben genau jene mystische Strenge, wie sie dem Beuroner Stil zugrunde liegt. Wer den Unterschied sehen will, der begebe sich nach Peter und Paul in Grießen, die deutlich düsterer, aber stilistisch gelungener renoviert ist. Herr Ruby merkte dies auch und besserte bereits während des Umbaus ständig nach. Er war Kunstkenner und Perfektionist, mit „Learning by doing“, was nicht unbedingt bei allen Lauchringern auf Verständnis stieß. Allerdings war das Thema Renovierung und besonders der Streit um den rechten Ort des Tabernakels Ende der 80er Jahre auch einer der ersten Punkte, die zu Konflikten mit dem Ordinariat in Freiburg führten.
Für mich persönlich und mein Leben war Josef Ruby ein sehr bedeutsamer Mensch, durchaus in sehr positivem Sinne. Denn ohne ihn wäre ich wohl sicher nicht katholisch geblieben. Vor der Begegnung mit ihm war ich nämlich keineswegs von der römisch-katholischen Kirche überzeugt. Ich war schon als Kind eher intellektuell veranlagt und glaubte nicht an „Kindergartenmärchen“. Meine Familie war in meiner Kindheit nicht sonderlich religiös geprägt und sozial war ich über meine Chortätigkeit eher in der evangelischen Versöhnungskirche Waldshut verankert. Doch überzeugte mich sein charismatisches Auftreten, sein engagiertes Leben, sein Humor und gerade auch sein kompromissloser Gerechtigkeitssinn, denn er versuchte, als Dorfpfarrer vorzuleben, was im Evangelium stand. Kompromisse dulde das Reich Gottes nicht, meinte er, eine Meinung, die ich durchaus bis heute mit ihm teile, wenngleich weniger offensiv. Sympathisch fand ich seine Offenheit, denn er log niemanden an, auch nicht aus falscher Höflichkeit. Man konnte immer sicher sein, dass er das, was er sagte, auch aufrichtig meinte, und dass er einen nie hinterging. Er hielt sein Wort. Für mich war das eine Verkörperung der Wahrhaftigkeit, der Emeth, ohne die ich bis heute keine Autorität achte, auch nicht im religiösen Bereich.
Dabei konnte Josef Ruby durchaus auch ziemlich ruppig sein, wie ich einmal selbst erlebte, als ich als pubertierender Ministrant mit dem Weihrauchfass (versehentlich) sein Auto anzündete. Das gab eine heftige Standpauke. Andererseits, es war auch nicht sonderlich geschickt von mir gewesen… Aber selbst diesen Lapsus trug er mir nicht persönlich nach, er vermied es lediglich künftig, mich, ein brennendes Weihrauchfaß und sein geliebtes Auto zusammenzubringen. Ja, er vergaß nicht – doch er konnte verzeihen. (Ich denke, viele Menschen, die sich für sehr großzügig halten, in Wahrheit aber nur ein sehr schlechtes Gedächtnis haben, können den Unterschied nicht begreifen.) Josef Ruby war zudem wahrscheinlich der einzige Mensch, der mit meinem berüchtigten Dickkopf als Kind und Jugendlicher zurecht kam, an dem sonst alle anderen scheiterten, selbst nächste Verwandte. Für ihn war ich immer „der Professor“, und Professoren gestand er ihre Dickköpfigkeit wohl genauso zu wie gewisse zerstreute Ungeschicklichkeiten im Umgang mit dem Kirchengerät. Von Freundschaft zu reden wäre sicher weit übertrieben, aber in religiöser Hinsicht war er sicher das größte lebende Vorbild, was die katholische Kirche damals für mich anzubieten hatte. Allein seine beiden monströsen Doggen und seine mir etwas zu männlich-joviale Art hielten mich immer in einem gewissen Sicherheitsabstand. Doch seine Gottesdienste und die legendären Predigten waren unbestreitbar ein Anziehungspunkt, den ich an keinem Sonntag versäumen wollte – selbst wenn dem andere wichtige Termine im Wege standen – dafür ließ ich sogar Konzerte meines heißgeliebten Chores ausfallen, sehr zum Leidwesen meiner Kantorin Trude Klein, dem zweiten großen kirchlichen Vorbild meiner Jugendzeit.
Unter einem anderen Pfarrer wäre ich auch sicher niemals Ministrant geworden. Er wusste zu begeistern. Dieser Mensch hatte nämlich auch jenseits seines Amtes ein spannendes Privatleben. Er hatte nämlich eine kleine Pferderanch, die er mit großer Liebe betrieb und auch über die Theologie hinaus sehr interessiert. Ich war übrigens auch nicht der einzige Jugendliche, der von ihm fasziniert war. Gerade bei den Ministrantenjungs kam seine Art gut an – bis ganz zuletzt. In einem anderen Leben wäre Josef Ruby vielleicht Fußballtrainer geworden, oder Sport/Reli-Lehrer.
Da ich 1994 zum Studium nach Freiburg wechselte – Joseph Ruby war es auch, weswegen ich mich für Freiburg und die katholische Theologie entschied statt für Stuttgart und die Kunst – da trennten sich unsere Lebenswege. So bekam ich vom immer heftiger aufflammenden Streit in der Pfarrei um ihn auch wenig mit. Im Rückblick würde ich sagen, verlief es nicht nur für ihn, für ihn persönlich aber besonders, sehr unglücklich. Feinde hatte er sich ja schon früh gemacht, aber als er verlauten ließ, dass er auch nach der Pensionsgrenze auf unbestimmte Zeit weitermachen wollte, da war die Geduld der Gegenpartei zuende. Es kam immer häufigen zu offenen Autoritätskonflikten, auch die Presse wurde eingeschaltet, bis hin zum ZDF, was in einem Fernsehbeitrag über den Streit berichtete. Der Druck setzte ihm zu. Er alterte darüber sichtlich, auch mental. Durch den Konflikt wurde er auch immer mehr ins konservative Lager getrieben, was, wenn man ihn besser kannte, etwas seltsam anmutet.
Vielleicht hätte er das Sprichwort „Aufhören soll man, wenn es am Schönsten ist“ beherzigen sollen – er selbst hatte mir einmal gesagt, damals war er 65, er hält nicht viel von tattrigen alten Pfarrern, bei denen man Angst haben haben muss, dass sie bei der Messe über den Altar kippen. Doch zum alten Eisen wollte er sich eben noch lange nicht zählen. Er war ja auch noch recht fit. Nachdem er Lauchringen 1997, also mehr als zehn Jahre später, verlassen musste, war für ihn noch lange nicht Schluss. Er wechselte zunächst nach Krenkingen, ihm folgten ein Teil seiner Lauchringer treuen Anhänger. Auf Dauer glücklich wurde er aber auch dort und in Tiengen nicht.
Bis zuletzt war er unermüdlich im Einsatz als Priester für Vertretungen im Schwarzwald, und dort war er oft auch noch gern gesehen. Zu seinem 84sten Geburtstag wurde er noch einmal glücklich vom Südkurier interviewt, der seine Lebensgeschichte recht neutral veröffentlichte, aber leider auch ohne die lustigen Pointen, die es über ihn zu erzählen gäbe. Danach setzte ihm das Schicksal mit einem Schlaganfall zu, der ihn zwang, deutlich kürzer zu treten. Trotzdem blieb er noch aktiv. Ich traf ihn damals noch einmal, als ich mit meinem Fahrrad zur Arbeit am Klettgau-Gymnasium radelte, doch erkannte er mich da leider nicht mehr, was mich traurig machte.
„Pfarrer Ruby“ blieb auch im 21. Jahrhundert noch lange ein gefährliches Thema in der Seelsorgeeinheit Tiengen-Lauchringen. Ich bin eigentlich mit allen Pfarrern nach ihm gut ausgekommen, besonders mit Klaus Groß, seinem direkten Nachfolger, verband mich ein fast freundschaftliches Verhältnis, doch in der Gemeinde selbst blieben die Fronten verhärtet, was ich sehr schade fand. So stelle ich mir das Reich Gottes nämlich nicht vor, und nach meiner theologischen Auffassung, nach der das Reich Gottes immer auch schon unter den Menschen anbricht, darf man Versöhnung nicht auf das Jenseits verschieben. Insofern hatte ich mich, wie auch manche andere Lauchringer, gefreut, dass er zumindest nochmal zum 90sten im August 2009 einen gemeinsamen Jubiläumsgottesdienst in Herz-Jesu Unterlauchringen halten dürfte. Doch es kam anders, sein Herr bestellte ihn zu sich heim und so starb Josef Ruby kurz davor am 25. Juli 2009.
Statt des Jubiläumsgottesdienstes gab es in Herz-Jesu dann immerhin einen Gedenkgottesdienst, wenn das natürlich auch nicht dasselbe ist. Aber immerhin ist es etwas anfängliches. Den Rest muss nun ein anderer vollenden.
Nach seinem Tod ging übrigens Josef Rubys kostbarer legendärer bischöflicher Primizkelch (ein Schatz, von dem wohl nur wenige Lauchringer überhaupt wissen) zurück nach Hildesheim wo er am 31.1.2013 vom Bistum feierlich begrüßt wurde, auch seine bedeutende Privatbibliothek wurde aufgelöst. Und so vergeht eben alles Weltliche, auch das geistliche.
Für mich persönlich wird Josef Ruby unvergesslich bleiben, denn er hat einen bedeutenden Teil meines Lebens entscheidend positiv mitgeprägt.