Charaktermenschen fallen nicht vom Himmel. Erinnerungen an einen jugendlichen Widerspruchsmenschen und warum es gut ist, dass es solche Leute gibt.
Wir Menschen neigen dazu, uns gegenseitig in Schubladen einzuordnen, sogenannte Kategorien: Optimisten, Pessimisten, Misanthropen, Gutmenschen, Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker, Träumer, Realisten – und was es sonst noch an kategorialen Sortierhilfen gibt. Eine solche Schublade, die aber vielleicht auch keine ist, sind die „Widerspruchsmenschen“. Das sind Menschen, die grundsätzlich anderer Meinung sind, schon fast aus Prinzip.
Ich erinnere mich, im Schuljahr 2003/2004, ganz am Anfang meiner Lehrerzeit am KGT, da gab es eine Schülerin mit Namen „Jule“. Sie war eine auf ihre Art einzigartige Persönlichkeit, sie hasste den Mainstream und seine institutionalisierten Vertreter, war ziemlich zickig-pubertär stets auf Kontra aus und die regelmäßige APO (außerparlamentarische Opposition) in meinem Unterricht. Zu ihrem großen Leidwesen fiel ihr (auf seine Art) unorthodoxer Deutschlehrer wegen eines Unfalls auf der Unglückstreppenstufe des KGT damals aus und ich übernahm auch noch dieses Kernfach, nachdem ich zuvor bereits wegen des Ausfalls des Religionslehrers schon Religion und dann auch noch Geschichte übernommen hatte. Drei Fächer bei „Herrn Dühning“, der bei den meisten Menschen, die ihn nicht genauer kennen, ohnehin als Verfechter der seelenlosen, grauen Orthodoxie gilt, das fiel ihr sichtlich schwer, was sie mich auch immer wieder wissen ließ – Gelegenheiten fand sie viele.
Solche Wesen, die ein lebendiger Widerspruch sind, gleichwohl sie im Alltag ziemlich lästig werden können, haben am KGT (und in der Schule überhaupt) eine lange Tradition, es gab sie sogar in der Lehrerschaft, und das mit gutem Grund: Denn sie waren und sind nötig. Wenn man die Geschichte des Klettgau-Gymnasiums ebenso in Kategorien unterteilen wollte, dann gab es nämlich dort auch eine lange Epoche, hauptsächlich nach Schulleiter Schrenk, in der die Übereinkunft regierte, oder negativ ausgedrückt: die Konsensdiktatur.
Es ist natürlich, dass jede Gemeinschaft Konsens anstrebt, aber im Allgemeinen wenig heilsam, wenn dies auch erreicht wird. Denn ohne Widerspruch wird eine Gesellschaft selbstgefällig, „kocht im eigenen Saft“ und agiert teils auch unmäßig, wo eine Korrektur fehlt. Dann regiert zwar angeblich das Gemeinwohl, in Wahrheit aber oft TINA („There Is No Alternative“), die normative Konventionalität, die genauso wenig mit dem Gemeinwohl zu tun hat wie der Osterhase mit der christlichen Erlösung. Gegen TINA helfen weder Geduld noch Vernunft, nur Persönlichkeiten, die die Konventionen offensiv in Frage stellen. Und genau deshalb sind Widerspruchsmenschen in jeder Gesellschaft absolut notwendig.
Als Verfechter von Montesquieus Gewaltenteilung würde ich am Liebsten genau einen Widerspruchsmenschen verpflichtend in jedes Gremium platzieren, damit Ideen immer hinterfragt und ausdiskutiert werden, damit das Gremium seine eigenen Grenzen achtet und auch, damit sich die Mehrheitsmeinung nicht mit dem Volonté générale verwechselt, was sie ja allzu gerne tut.
Denn das Gemeinwohl ist nicht kausal mit der vorherrschenden Mehrheitsmeinung identisch und auch nicht mit dem Willen der Machthaber. Und darum, obwohl sie mich damals oft zur Weißglut trieb, hatte ich Jule als Innerklassenopposition liebend gerne, denn sie zeigte mir permanent die Gegenseiten auf und machte mir auch meine Grenzen bewusst. Schade nur, dass ich sie nicht mehr erleben konnte, wie sie mit ihrem Kritikvermögen etwas diplomatischer umzugehen lernt, denn Widerspruchsmenschen brauchen gemeinhin recht lange, bis sie sich selbst diszipliniert haben und ihren meist recht starken Eigenwillen beherrschen. Dafür zeichnen sie sich in späteren Lebensjahren oft durch Aufrichtigkeit und Rückgrat aus und durch Zivilcourage, jenes Element, ohne das Demokratie nicht funktionieren kann und die deshalb alle ersehnen.
Kaum einer jedoch ist bereit, die nötigen Vorarbeiten zu leisten. Denn Zivilcourage ist nicht angeboren, sondern wird hart erarbeitet. Einem Widerspruchsmenschen fällt Courage von seinen Neigungen vielleicht einfacher, doch er benötigt Kraft und verständnisvolle, nicht aber kritiklose Zuneigung, um Selbstdisziplin zu entwickeln. Konsensmenschen dagegen muss man erst in mühevoller Kleinarbeit klarmachen, dass es manchmal nötig ist, „Nein“ zu sagen. Das alles braucht Zeit und lässt sich nicht durch bloße Methodik erzwingen.
Es ist die Crux mit dem verkürzten Gymnasium, dass hier nur der stromlinienförmige Gleichklang gefördert wird, Charaktermenschen, die sich nicht einpassen wollen, aber eher an den Rand gedrängt oder auf andere Schultypen vertrieben werden.
Und wenn es die Gemeinschaftsschule mit ihrem (angeblich) weniger restriktiven Lernsystem hier schafft, verlorene Persönlichkeitsbildung wiederzugewinnen, dann wäre schon viel erreicht. Doch dazu muss sie mehr sein als bloß neue Methodik. Um Charaktermenschen zu bilden braucht es selbst Charaktermenschen als Diskussionspartner, an denen man sich reiben kann.