Freiheit und Gesetz

Freedom (Foto: Jill Wellington via Pexels)
Freedom (Foto: Jill Wellington via Pexels)

Freiheit ist nicht gleich Freiheit. Je nach Perspektive machen ganz unterschiedliche Sachverhalte frei. Das zu wissen ist wichtig, wenn man eine gerechte Ordnung der Dinge anstrebt.

Freiheit für Mächtige, Freiheit für Machtlose

Es gibt eine Freiheit der Starken und eine Freiheit der Schwachen. Beides sind relative Vektoren, die zueinander allerdings oft entgegengesetzt verlaufen. Für die Starken und die Wohlhabenden besteht Freiheit vor allem darin, möglichst uneingeschränkt die eigenen Möglichkeiten zu verwirklichen, sich zu entfalten und sich selbst zu perfektionieren. Für all das fehlen allerdings den Schwachen und Notleidenden die Ressourcen. Ihre Freiheit ist die Freiheit, möglichst unabhängig in Würde zu leben, was für die Starken selbstverständlich ist, nicht jedoch für die am Rande der Existenz Lebenden.

Einen Berührungspunkt für beide gibt es im Gesetz einer Gesellschaft, das die Gegensätze ausgleichen soll, das allein bedingt seine Existenzberechtigung. Für die Schwachen ist das Gesetz eine Hilfe, vor allem eine, die sie von der Willkür der Mächtigen schützt. Denn natürlich könnten sich die Reichen auch von sich aus erbarmen und den Armen helfen, doch zwingt diese willkürliche und zudem recht unsicher reversible Eigenmacht die Schwachen in eine dauerhafte Abhängigkeit, es macht sie unfrei. Gesetze regeln dagegen auf objektiver Grundlage, wie gesellschaftliches Handeln umzusetzen ist, sie entziehen die Entscheidungen individueller Beliebigkeit und stützen – wenn es sich wirklich um Gesetze einer gerechten Ordnung handelt und nicht um willkürliche Satzungen – generell gerade auch die jeweils Schwächeren.

Es dürfte klar sein, dass sich das Gesetz daher aus Sicht der Machtvollen etwas weniger positiv darstellt, es wird von dieser Seite oft als persönliche Einschränkung empfunden und daher abgelehnt. Freiheit erscheint für die Partei der Mächtigen vor allem als eine Freiheit von Gesetzen. Riskant wird es, wenn man dies mit Hinweis auf das berühmte Diktum des Paulus auch noch religiös überhöht: „Der Buchstabe (des Gesetzes) tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2 Kor 3,6). Mit Geist ist bei Paulus nämlich nicht der menschliche Intellekt gemeint, sondern der Geist Gottes – und Gott steht in der gesamten Bibel immer auf Seiten der Schwachen, nicht auf der der Mächtigen. Insofern ist es höchst irreführend, wenn man egoistische Freiheiten gegenüber der Gesamtgesellschaft mit der christlichen Moral begründen will. Das geht nicht. Eine absolute Freiheit des Individuums ist höchstens mit der altgriechischen Vollkommensheitsphilosophie, nicht aber mit der biblischen Ethik begründbar. Letztere steht immer in der Spannung von Personalität und Solidarität.

Gesetze und Satzungen

Allerdings wäre es gerade deshalb auch zu einfach, dem Freiheitsvektor der Schwachen und damit gesellschaftlich-sozialen Normierungen immer den Vorzug zu geben. Denn in der moralischen Praxis sind ethisch begründete Gesetze und dort hinein gemogelte menschliche Satzungen (wie z. B. Lobbyinteressen) nicht leicht zu unterscheiden. Zumal die sprachliche Mehrdimensionalität auch noch unterschiedliche Interpretationen von Worten und Texten ermöglicht. Das bloße Vorhandensein eines Gesetzes garantiert zudem nicht dessen Realisierbarkeit.

Letztlich kann selbst ein perfekt formuliertes Gesetz nur das Böse verhindern helfen, nicht aber das Gute erzwingen. Denn um gut zu sein, reicht es nicht, Regeln zu befolgen. Man muss den Sinn hinter dem Gesetz auch erfüllen. Das ist es, was Paulus meint, wenn er sagt, „der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ – denn erst, wer aus dem Geist des Guten heraus handelt, handelt ethisch gut. Mit Kant formuliert: Wer aus formellen Zwängen heraus Satzungen befolgt, handelt bestenfalls pflichtgemäß, aber noch nicht pflichtbewusst – letzteres setzt einen autonomen Vernunftentscheid voraus, der nicht an externe Vor- oder Nachteile gebunden ist.

Womöglich ist die ethische Korrektheit nur ex negativo zu bestimmen, wenn jemand sich selbst durch sein moralisches Handeln bewusst benachteiligt, also seine persönlichen Freiheiten um der Moral willen einschränkt. Ob dann allerdings auch eine objektiv für das Gemeinwohl gute Entscheidung vorliegt, lässt sich damit immer noch nicht zweifelsfrei feststellen, nur eben, dass keine unmoralische Intention zugrunde lag.

Unrechtsindikatoren

Daher ist es doch wesentlich einfacher, lediglich konkrete Unrechtshandlungen zu erkennen und zu kritisieren, als eine allgemein gerechte Ordnung zu verwirklichen. Die Dekonstruktion von Unrecht ist wichtig und notwendig, reicht aber für eine gute Ordnung noch nicht aus.

Es gibt einige Indikatoren, die auf eine mangelhafte sittliche Substanz eines gesetzlichen Regelwerkes hinweisen:

  • Auf Unrecht weist es hin, wenn ein Gesetz nur aus einer großen Masse zusammenhangloser Einzelsatzungen besteht. Dies deutet darauf hin, dass es sich nicht um ein dem Gemeinwohl verpflichtetes Gesetz, sondern nur um eine letztlich sinnlose, willkürliche und selbstbezügliche Vorschriftenansammlung handelt. Ein gutes Gesetz ist möglichst knapp, allgemeingültig und trotzdem unmissverständlich und treffend formuliert. Die einzelnen Satzungen müssen vernünftig ableitbar sein. Generell kann man sagen, je umfangreichere Losetextansammlungen ein Gesetz umfasst, umso dünner ist seine moralische Durchdringung.
  • Auf Unrecht weist es allerdings genauso hin, wenn das eigentliche Gesetz zwar kurz und prägnant ist, es daneben allerdings noch ein unabhängiges zusätzliches, geheimes Rechtssystem gibt, das nur einem Zirkel von Eingeweihten bekannt ist, die es dann fallweise letztlich nach Belieben zu ihren Gunsten ausdeuten können. Satzungen, die nur im Verborgenen existieren, sind selbst unmoralisch. Damit ein Gesetz zur moralischen Grundlage einer Gemeinschaft werden kann, muss es allen Mitgliedern einer Gesellschaft vollständig transparent sein, also öffentlich. Geheime Zusatzprotokolle sind der Tod der Moral.
  • Auf Unrecht weist weiterhin hin, wenn in den Formulierungen des Gesetzes regelmäßig ethisch-moralische Kategorien wie z. B. moralische Verpflichtungen und ethisches Sollen durcheinander geworfen werden. Ein vernünftiges Gesetz trennt inhaltlich wie begrifflich sauber zwischen „müssen“, „sollen“ und „können“. Es trennt moralische Ableitungen von deren ethischen Prämissen und berücksichtigt kritisch ihre Umsetzbarkeit. Es beschränkt sich bei Regelungen auf das Handlungsvermögen und verzichtet weitgehend darauf, in autoritärer Weise das Denken und Empfinden festzulegen, hält sich bei der Sanktionierung an den alten Rechtsgrundsatz: „De internis non judicat praetor“ – dass also das innere Empfinden der Person nicht justiziabel ist, sondern lediglich das objektiv feststellbare Handeln festgelegt und sanktioniert wird. Denn über rein innere Beweggründe einer Person zu urteilen ist durch andere Menschen letztlich nicht angemessen möglich. (Auf „das Herz“ einer Person zu „sehen“ und ein Urteil darüber zu fällen ist der göttlichen Sphäre vorbehalten.)
  • Auf Unrecht weist es hin, wenn Satzungen ganz offensichtlich nicht befolgt werden können oder ihre Befolgung unmöglich kontrolliert werden kann. Das Gesetz büßt dann seinen Charakter als gesellschaftlicher Hilfsnorm ein und verkommt zu einer Art Drohkulisse. Der Zweck heiligt auch dann nicht ein solches Mittel, wenn damit höhere Ideale zementiert werden sollen. Unausführbare oder unkontrollierbare Regeln führen letztlich dazu, dass das Vertrauen in die gesamte gesetzliche Ordnung untergraben wird.
  • Auf Unrecht weist es zuletzt hin, wenn einzelne Regelungen regelmäßig  dazu verwendet werden können, Individuen oder Gruppen in unnötige Abhängigkeitsverhältnisse zu bringen. Wenn beispielsweise ein Gesetz intendiert, dass man in der Alltagspraxis ständig bei Sondergremien Ausnahmeregelungen davon erbitten muss, dann ist es (absichtlich) schlecht gemacht. Solche Satzungen schaden der Moral. Das Sprichwort „Die Ausnahme bestätigt die Regel“ stimmt nämlich schlichtweg nicht. Einzelne Ausnahmen sind immer notwendig, denn kein Gesetz kann für jede Situation absolut formuliert werden. Doch je weniger es trifft, je häufiger ein Gesetz Ausnahmen erfordert, desto unnützer ist es. Wird die Ausnahme zur Regel, steht die Satzung dem Gesetz selbst im Weg. In einem solchen Fall ist angeraten, die betroffene Satzung schleunigst aus dem Kodex zu entfernen, weil von schlechten Satzungen ein Wust von weiteren Ausnahmeregelungen wuchert, der das Gesetz als Ganzes korrumpiert. Dann gilt entweder: „Wenn der Gesetze zuviel werden, dann werden sie nicht mehr befolgt“ (Lü Buwei), oder aber die Satzungsansammlung wird entgegen dem ursprünglichen Sinn eines Gesetzes dazu verwendet, Ungleichheit zu fördern und die Schwachen zu unterdrücken. Oft ist beides zugleich der Fall.

Das Endstadium einer ungerechten Ordnung ist genau dann erreicht, wenn das Recht selbst zu einem Instrument wird, Schwache und Minderheiten zu unterdrücken und wenn persönliche Willkür zur legitimen Regel erklärt wird.

Praktische Folgen

Für die wenigen Profiteure einer solchen, ungerechten Ordnung ist dann die höchste persönliche Freiheit verwirklicht, allerdings zu einem hohen gesamtgesellschaftlichen Preis: Von der persönlichen Souveränität und dem Vermögen dieser Wenigen hängt dann alles ab. In der Realität, in der menschliche Halbgötter auf Erden nur in Hirngespinsten und Machtphantasien existieren, ging das auf Dauer nie gut aus. Eine so zerrüttete Gesellschaft ist nämlich höchst anfällig für Krisen aller Art, sei es für Invasionen oder auch Bürgerkriege. Strukturelles Unrecht führt grundsätzlich zu vermehrtem Leid. Die Geschichte ist voller Beispiele dafür.

Auch in kleinem Maßstab sind gesellschaftliche Instanzen gefährdet, um persönlicher Ziele oder Prestigeangelegenheiten willen soziale Grundstrukturen willkürlichen Eigeninteressen zu beugen. Die Verführung, mit asozialen Machtmitteln den scheinbar einfacheren Weg zu gehen, ist immer und überall da, spielt oft auch ganz unbewusst eine Rolle, unvermeidlich. Die Dialektik zwischen Eigennutz und Gemeinwohl ist letztlich nicht auflösbar.

Da es in der Praxis kaum auszumachen ist, wes Geistes Kind eine Entscheidung ist, schützen selbst hehre Ideale nicht  davor. (Sie können ihrerseits vergötzt werden.) Eindämmend wirkt lediglich eine konsequente Gewaltenteilung, in der sich Teilgremien gegenseitig kontrollieren. Doch diese Kontrolle geschieht nicht ohne Auseinandersetzung. Daher bleibt das gesellschaftliche Leben kontrovers und auch ethische Grundsätze wie die Freiheitsvorstellungen bleiben im Alltag zwischen individueller Entfaltung und solidarischer Stützung der Benachteiligten immer umstritten.

Aber das hat auch sein Gutes. Denn die Wirklichkeit – das macht sie ja gerade aus – ist komplexer als alle kategorialen Vereinfachungsversuche, wie sie auch ethische Maximen letztlich darstellen. Wir existieren nicht einfach in einer linear vorhersehbaren Abfolge von Regelmechanismen, sind nicht nur kausal-logisch determiniert. „Können“, „Sollen“ und „Müssen“ stehen nicht notwendig in Beziehung zum Sein, schon gar nicht in einer Gesellschaft, die aus einer Vielzahl von Individuen besteht.

Das macht unser Leben kompliziert und kontrovers, aber letztlich auch interessant, in jeder seiner Entscheidungen einzigartig und damit lebenswert. Wäre es nicht so, wäre es letztlich auch nicht möglich, moralische Entscheidungen zu treffen und damit Freiheit zu erwerben.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.