Chaos macht NICHT kreativ!

Ganz entgegen landläufiger Meinungen fördert ein gewisses Grundchaos nicht die Kreativität, sondern ist ihr ziemlich hinderlich. Genau genommen bedeutet Chaos sogar das Gegenteil von Kreativität. Es erschafft nichts, es zerstört.

Chaos ist Zerstörung, nicht Kreativität

Wer die Mär, Chaos mache kreativ, in die Welt gesetzt hat, weiß ich nicht, doch sie hält sich schon erstaunlich lang und hat so manches kreative Projekt und sogar einige „Kreativgemeinschaften“ zum Scheitern gebracht. Mancherorts werden sogar blühende Kreativkulturen zerstört, indem man sie strukturellem Chaos aussetzt in der Hoffnung, dass sich daraus dann quasi aus dem Nichts neue Blütenwälder erschaffen ließen. Wer so denkt, hat weder die Bibel richtig gelesen, noch die abendländischen Philosophen, noch hat er Darwins Evolutionslehre verstanden.

Biblisch betrachtet ist Chaos nicht ein Grundbestandteil von Schöpfung sondern ihr krasses Gegenteil: Die Chaoswasser der Sheol sind genau dort, wo Gottes Geist nicht spürbar wird – umgekehrt, wo Gottes schöpferischer Geist über den Wassern schwebt, entsteht selbst aus dem tödlichen Chaos Schöpfung. Schöpfung bedeutet aber nicht Chaos, sondern göttliche Ordnung – die alten Griechen nannten es Logos – und der Begriff „schöpferisches Chaos“ ist ein Unding, selbst wenn wir uns selbst für Götter halten.

Management by Darwin

Das hält manche Unternehmen nicht davon ab, zu glauben, indem man in einer Gemeinschaft den immer vorhandenen Chaoslevel absichtlich noch fördert, wunderbare neue Schöpfungsprodukte zu erhalten.

In unserer banalen Alltagswelt, in der das göttliche Wirken weniger offensichtlich zutage tritt wie in den biblischen Schöpfungserzählungen, kann man dann stattdessen gewisse weltliche Evolutionsprozesse beobachten, die stark an Darwin erinnern, oder besser noch, an dessen Schwundstufe – Ernst Haeckel: den Kampf aller gegen alle.

„Management by Darwin“, das Theorem, jeden einfach machen zu lassen und dann zu hoffen, dass sich das Beste durchsetzt, führt zwar richtigerweise recht schnell zu Chaos, ist aber gelebter, langfristig höchst destruktiver Sozialdarwinismus, denn es setzen sich in einem solchen System eben nicht die vollkommenen Schöpfungen durch, nicht einmal die Stärksten, sondern die Trickreichsten und Skrupellosesten. Besonders ästhetische Gebilde sind die ersten, die in einem solchen System zugrunde gehen, es bleibt eine undefinierbare Ursuppe, mithin nur universell sich anpassende, kleinliche Einzeller übrig. Größere und komplexere Strukturen sind nämlich nicht anpassungsfähig genug, um sich in einem chaotischen System halten zu können.

Kreativität braucht Geborgenheit und Füreinander

Will man also schöpferische Traumschlösser Wirklichkeit werden lassen, dann ist Chaos genau das Gegenteil von dem, was man braucht. Sicherlich lassen sich Traumschlösser mit der tödlichen Macht der Ordnung auch nicht realisieren – denn jede reine Logik bleibt letztlich in ihrem eigenen System gefangen, kann somit nichts wirklich Neues erschaffen und führt, wird sie ohne Herz und damit ohne Verstand ausgeführt, schlimmer noch immer in ihren eigenen, unausweichlichen Untergang: den Tod durch Erstarrung im absoluten Nullpunkt.

Für wahre Schöpfung braucht es sicher kein Chaos, noch die Tyrannei der Ordnung, sondern – mit gewissen Bedenken benutze ich dieses ausgelaugte Wort – Liebe. Denn solche transzendente Zuneigung und Geborgenheit ist die einzige Gewalt im Kosmos, aus der wirklich Neues entstehen kann, das über sich selbst hinauswächst.

Was bedeutet das für Gemeinschaften und Unternehmen? Dass sich alle jederzeit „lieb haben und Händchen halten“ sollen? Mitnichten! Denn Zuneigung lässt sich nicht erzwingen, auch nicht mit Gemeinschaftsbeschwörungsformeln, die letztlich Totengeister sind.

Wohl aber lassen sich soziale Strukturen so einrichten, dass ein gelebtes Füreinander möglich und sogar vorteilhaft ist. Das bedeutet aber zunächst, auf kreative Prestigeprojekte zu verzichten und soziale wie moralische Grundeinrichtungen zu schaffen, in denen ein spielerisches Füreinander, das eben nicht Chaos ist, sondern Gemeinschaft, zur wahren „Regel“ wird. Das kostet Kraft und Ressourcen, die dann Kreativprojekten offensichtlich erst einmal fehlen.

Verbote und Regeln allein reichen nicht

Doch um Größeres zu Schaffen, braucht es eben zuerst einen Schutzraum des Vertrauens, soziale Geborgenheit. Das ist über Verbote allein nicht möglich, egal ob sie direkt mit „Müssen“ hantieren oder gemeingefährlich-heimtückisch über Sollens-Regeln daherkommen, im Gegenteil, wo TINA regiert, jenes „There Is No Alternative“ und somit alle denkbaren Alternativen im Keim erstickt werden, schwindet gerade das Vertrauen in die Instanzen, was genau so schlimm ist, als gäbe es gar keine. Indem man alle Grenzen von vornherein negiert und alles schutzlos dem gelebten Sozialdarwinismus überlässt, ist Vertrauen und Moral aber auch nicht möglich.

Es gilt, wie so oft, den goldenen Mittelweg zu finden, wo bei Bedarf manches möglich ist, aber eben auch nicht ständig alles chaotisch wieder durcheinander geworfen wird.

Künstler brauchen kein Chaos, sondern eine Quelle der Kraft

Was bedeutet das für den einzelnen Künstler? Er sollte zunächst eine halbwegs aufgeräumte, gegen Unwetter geschützte Werkstatt haben, es mit der Ordnung und der Abschottung aber auch nicht übertreiben – denn Chaos ist Kreativität zwar sicher direkt abträglich, aus Ordnung allein entsteht aber auch nichts Neues, denn der Akt der Kreativität ist letztlich das Erschaffen neuer Ordnungsmuster.

Um solche zu er-finden, muss der Künstler über seinen eigenen Wirklichkeitshorizont hinauskommen, entweder, indem er sich selbst innerlich transzendiert (durch Träume, vielleicht gar mystische Erlebnisse) oder indem er Neues in der Gemeinschaft mit anderen sucht. Will der Künstler universell sein, muss er beides tun.

Das innere Gefühl, das aus beidem heraus entsteht, muss nicht glücklich sein, aber letztlich so gehalten, dass es ihm Quelle der Kreativität wird. Chaosgefühle wie Hass, Zermürbung, Zorn und Depression taugen nicht dazu, kreativ zu werden. Liebeskummer, jenes Empfinden unerfüllten Glücks, kann aber sehr inspirierend sein.

Daher muss der kreative Mensch kein glücklicher sein, aber einer, der aus seinen Empfindungen schöpferische Kraft beziehen kann.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.