Die Toten haben keine Rechte

Zu den Besonderheiten des nitramischen Rechtssystems gehört, dass alle rechtlichen Bindungen mit dem Tode eines Lebewesens enden – folglich gibt es in Nitramien keine Testamente und selbst kaiserliche Edikte erlöschen mit dem Ableben des Amtsinhabers.

Der Grundsatz, dass Tote keinerlei Rechte haben (und auch keine Pflichten) stammt ursprünglich aus dem tyrillianischen Rechtssystem und wurde von der Neu-Nitramischen Konföderation (deren Bevölkerungsmehrheit tyrillianisch ist) bei deren Gründung übernommen. Es leitet sich aus der tyrillianischen Lebensethik ab, für die jede Art von Moral und Recht zwingend an Leben geknüpft ist – umgekehrt erlöschen nach dieser Auffassung mit dem Tod des Individuums alle ethischen Verpflichtungen und Rechtsgeschäfte, dabei ist es auch nicht möglich, diese mittels vertraglicher Regelungen „hinüberzuretten“.

Folglich gibt es in Nitramien kein personales Erbrecht. Mit dem Tod tritt automatisch eine gesetzliche Güterübertragung in Kraft, mit der Zusatzklausel, dass etwaige individuelle Verträge, die mit dem Erbe verbunden sind, mit den Erben neu auszuhandeln sind. Diese können einzelne Verträge auch ablehnen, ohne das Erbe zu verlieren. Dies spielt besonders bei Krediten eine Rolle, die in Nitramien aus genau diesem Grund nicht an einzelne Personen abgegeben werden oder nur in Form von Hypotheken auf die Immobilien selbst. Nur für den Fall, dass jemand keine gesetzlichen Erben hat, kann er einen oder mehrere Erben „schriftlich vorschlagen“. Handelt es sich dabei um Personen, hat aber auch dies nur insofern Gültigkeit, als eine entsprechende soziale Verbindung zu Lebzeiten bestanden hat. Falls das auch in diesem Falle zuständige Civinat der Meinung ist, dass dies nicht oder nicht in ausreichendem Maße der Fall war, kann es das „Testament“ annulieren und selbst geignete Erben auswählen. Dabei orientiert es sich dann nicht am Grad der Verwandtschaft, sondern an den Sozialkontakten des Verstorbenen. Falls es keine direkten Nachkommen, Eltern oder Geschwister gibt, kann also auch der beste Freund zum Haupterben werden – in Ninda dürfen sogar Tiere als Erben eingesetzt werden.

Eine ordentliche Bestattung gilt als sittliche Pflicht der Erben. Wie die Bestattung eines Toten zu erfolgen hat, liegt nach nitramischer Auffassung allein im Ermessen der Erben, die allein nach ihrem Gewissen zu entscheiden haben. Leichenschändung gilt als Ehrverletzung – und zwar der Ehre der Verwandten und Erben – und wird als solche bestraft. Auch das Grab fällt unter das Eigentumsrecht der Erben – ein Grab zu schänden ist in Nitramien kein eigenes Delikt, sondern gilt als Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch sowie – was den Friedhof betrifft – als Denkmalschändung – was als Verletzung des Kontinuitätsgrundsatzes ohnehin schwer bestraft wird. Das Kontinuitätsgebot bewirkt auch, dass das Andenken an jeden nitramischen Staatsbürger per gesetzlichem Auftrag gesondert durch die staatlichen Archive gewahrt wird. Neben Namen und Daten bewahren sie deshalb auch eine kurze Biografie des Verstorbenen sowie meist einige repräsentative Bilder für die Nachwelt auf.

Besonderes Gewicht erhält die nitramische Rechtsauffassung beim Tod von besonderen Würdenträgern. Da das nitramische Recht Ämter immer als zeitlich befristetes Mandat ansieht, das spätestens mit dem Tod endet, verlieren alle rein personal gefällten Entscheidungen – beispielsweise die Edikte von Königen und Kaisern – mit deren jeweiligem Tod ihre Gültigkeit. Um darauf hinzuweisen, werden Edikte entsprechend mit dem Zusatz „auf unerdenkliche Zeit“ versehen, wenn sie nicht ohnehin befristet sind. Dauerhafte Gesetze (Dekrete) können in Nitramien nur überpersonelle Gremien fällen, beispielsweise die Länderparlamente oder für die gesamte Konföderation die nitramische Volksversammlung. Die meisten öffentlichen Ämter werden auch auf mehr als eine Person aufgeteilt, meist in Form von Räten, die Entscheidungen dann gemeinsam treffen, womit das Problem des Gültigkeitsverlusts im Todesfalle entfällt.

Eine Besonderheit stellt die Nachfolgeregelung bei Adligen, besonders bei nitramischen Königen und dem Kaiser dar. Auch hier ist es zwar nicht möglich, einen Nachfolger testamentarisch festzulegen (Mandate sind zudem nie erblich!), doch kann ein Monarch zu seinen Lebzeiten Mitglieder eines Thronrats benennen, die dann im Falle seines Ablebens einen Nachfolger bestimmen, wenn dies in der entsprechenden Landesverfassung nicht ohnehin gesetzlich geregelt ist. Die Mitglieder eines Thronsrats müssen sich dann auf einen Nachfolger einigen – für den Fall, dass dies nicht geschieht, geht das Recht, einen Nachfolger einzusetzen, an den amtierenden Kaiser über, oder – wenn der Kaiser selbst gewählt werden müsste – tritt per Bundesgesetz die Präsidialverfassung in Kraft.

Ahnenkult wird in Nitramien aus religiösen und ethischen Gründen abgelehnt: „Es darf nicht sein, dass sich Totes aus Lebendem nährt!“ – heißt es dazu in der tyrillianischen Lebensethik. Das ist einer der Gründe, warum sich Grabschmuck in Grenzen hält, auf nitramische Gräber in der Regel keine Schnittblumen gestellt werden, während es umgekehrt als segensreich gilt, Blumen oder Bäume auf Gräber zu pflanzen, damit sich symbolisch neues Leben aus den Überresten der Toten nährt. Die Tyrillianer gehen sogar soweit, ihre Toten ausschließlich in Friedhofshainen zu bestatten.

Kulte, die Tote verehren, stehen unter in Nitramien unter Strafe, ebenso ist es verboten, Tote zu klonen oder digitale Simulationen von ihnen (z. B. Holoprogramme) zu erstellen. Denn nach nitramischer Auffassung steht es allein der göttlichen Sphäre zu, den Verstorbenen neues Leben zu verleihen und sie so wieder wirklich lebendig und gemeinschaftsfähig zu machen.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.