Das Prinzip der ethischen Kausalität

In allen Weltreligionen und selbst bei Atheisten gibt es die Anschauung, dass Unrecht Folgen nach sich zieht, das Kausalitätsprinzip aus der physischen Welt also auch auf ethisch-moralische Handlungen anwendbar ist. Was die verschiedenen Anschauungen unterscheidet, ist die Bewertung.

Ethische Kausalität

Vereinfacht ausgedrückt besagt das Prinzip der ethischen Kausalität: Tust du Böses, bewirkt dies Böses, tust du Gutes, bewirkt dies Gutes – und zwar über deine bloße Existenz hinaus, auch noch dann, wenn du selbst nicht mehr bist.

Wahrscheinlich liegt dem Kreislauf der ethischen Kausalität sogar eine empirisch verifizierbare Erfahrungsbasis zugrunde, solange man das Prinzip, dass moralische Handlungen moralisch gleichwertige Folgen nach sich ziehen auf ein soziales System als Ganzes bezieht und nicht mit einem bestimmten Individuum verknüpft. Dann erhält die alte Aussage aus dem Dekalog, dass Verstöße gegen die Moral auf die ganze Sippe zurückfallen, und das über bis zu vier Generationen, einen soziologisch fundierbaren Sinn:

Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten. (Ex 20,5b-6)
Tatsächlich liegt bei etwa 100 Jahren die Erinnerungsschwelle, ab der eine Gesellschaft Sachverhalte als historisch belanglos ansieht, und tatsächlich fallen moralische Missgriffe einzelner Verantwortlicher immer auf die Gesellschaft als Ganzes zurück, während gleichzeitig einzelne Gerechte darin durchaus zu Unrecht leiden können.
 

Rachegötter

William Bouguereau (1825-1905): Orest wird von den Rachegöttinnen verfolgt. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei
William Bouguereau (1825-1905): Orest wird von den Rachegöttinnen verfolgt, Ausschnitt. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei

In der primitivsten Grundstufe ist es ein göttliches Wesen oder mehrere, die dem Prinzip der ethischen Kausalität auf unheimliche, geradezu übernatürliche Weise erbarmungslos zur Geltung verhelfen, z. B. in Form der Erinnyen, der griechischen Rachegöttinnen: Diese „Furien“ verfolgen Missetäter, bis sie zur Strecke gebracht sind oder sie sich selbst richten. Dabei ist zu beachten, dass die Rachegötter nicht nach heutiger Definition „böse“ sind, sie sorgen für gerechte Sühne, stellen also das Gleichgewicht wieder her.

Diese Strafe muss sein, um die göttliche Ordnung in der menschlichen Sphäre wieder durchzusetzen. Wie gerade das Beispiel des Orestes zeigt, reicht es dazu auch nicht, in einem Gerichtsverfahren freigesprochen zu werden – selbst wenn dies mit Beistand eines anderen Gottes erfolgt. Erst wenn alle kausalen Implikationen abgearbeitet sind, kommt die Sühne zu ihrem logischen Abschluss. Das System der ethischen Kausalität selbst wird in vorantiken Kulturen daher positiv oder schlicht neutral gewertet – ausnahmslose Sühne als Grundprinzip des Kosmos.

Erstaunlicherweise sind wir in der postreligiösen Anschauung der Gegenwart genau wie im Fundamentalismus mit seinem letztlich schwindsüchtigen Gottesbild wieder zu dieser doch eher antiquierten Ansicht zurückgekehrt, dass das Prinzip der kompromisslosen Rache einem schwachen Vergebungsglauben vorzuziehen sei, bzw. aus Gründen einer höheren Ordnung vorgezogen werden müsse. Das hat Folgen – vom innergesellschaftlichen Umgang mit Missetätern, der oft inzwischen wieder stark an Hexenjagden erinnert, bis hin zur Außenpolitik, wo Kompromisse und Rücksichtnahmen neuerdings wieder als bloße Schwäche gedeutet werden.

Barmherzigkeit statt Rache

In den meisten Hochreligionen wird das „Prinzip der ethischen Kausalität“ aber aus guten Gründen als unzureichend bewertet. Im Buddhismus ist es – zusammen mit der unzutreffenden Ansicht eines substanziell existierenden „Ichs“, einer der Gründe für das existenziale Leid. Es kann nur durch die rechte Anschauung des achtfachen Pfades und eine Grundhaltung des Mitgefühls überwunden werden. Im Judentum und Islam, besonders aber im Christentum, ist das Prinzip der ethischen Kausalität dem „Herrn dieser Welt“ zugeordnet, also dem Satan: Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein „Teufelskreislauf„. Glück oder auch nur Sinn kann daraus nicht entstehen.

Das Prinzip der ethischen Kausalität gehört damit zur unerlösten Welt, die nicht auf die bereits im Dekalog angesprochene Barmherzigkeit Gottes hoffen kann, die dem unentrinnbaren Prinzip der Sühne verfallen ist, wo es letztlich keine Vergebung oder Erlösung geben kann, wo Rache als Gerechtigkeit erscheint und alle Menschen als Sünder eigentlich dem Untergang bestimmt sind, sofern nicht die göttliche Gnade wirkt. In einer solchen Welt kann man nur tragisch scheitern wie der Held der griechischen Tragödie, oder sich, dem modernen Sisyphos bei Camus gleich, völlig sinnlos abmühen.

Dabei sind Gnade und Barmherzigkeit als Gottesgaben tatsächlich nicht logisch schlüssig, sie fallen aus der Sphäre der Transzendenz in das in sich geschlossene System ethischer Kausalität ein und setzen es von außen außer Kraft – wirksam allerdings auch dann nur, wenn dies von den Betroffenen realisiert bzw. „geglaubt“ und im Leben umgesetzt wird. So ist die Gnade zwar nicht verdienbar, sie ergibt sich nicht aus „guten Werken“ im System, ohne die rechte Anschauung aber wird Gnade aber auch nicht spürbar im Leben.

Ohne Vergebung keine Erlösung

Deshalb vergibt Gott Vater im christlichen Vaterunser, wie auch wir unsern Schuldigern vergeben, eben nur dann, wenn man nicht krampfhaft am Sühneprinzip der ethischen Kausalität festhält:

„Vater unser im Himmel,
Geheiligt werde Dein Name,
Dein Reich komme,
Dein Wille geschehe,
Wie im Himmel, so auf Erden,
Unser täglich Brot gib uns heute,
Und vergib uns unsere Schuld,
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
Sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn Dein ist das Reich, und die Kraft, und die Herrlichkeit.
In Ewigkeit. Amen.“ – Vaterunser, Grundgebet des Christentums

Nicht umsonst steht der Satz von der Schuldvergebung direkt vor der Bitte um das Nicht-Versucht-Werden und der Erlösung vor dem Bösen. Tatsächlich fällt das Loslassen den offensichtlichen Sündern und Missetätern leichter als den Gerechten, die ja scheinbar alles richtig gemacht haben und im Falle von göttlicher Gnade scheinbar auf ihre „Entschädigung“ verzichten müssen.

Darum sind die Sünder näher am „Reich Gottes“, wo das Prinzip der ethischen Kausalität außer Kraft und das Leid damit getilgt ist. Deshalb ist der wahre verlorene Sohn in der Parabel vom barmherzigen Vater im Lukasevangelium nicht der, der das Vermögen des Vaters aus Dummheit durchbringt, sondern eben jener, der diese Schuld aus Neid und Rachsucht dem Bruder und indirekt auch dem Vater nicht vergeben will.

Auf die Wichtigkeit der göttlichen Gnade weist aber auch immer wieder schon die Tora hin, wenn beispielsweise Gott dem stark suizidalen Propheten Jona am Schluss des Jona-Buches vorhält, dass dieser wegen seiner rechthaberischen Eigensüchtigkeit von Gott verlangt, eine ganze Stadt auszurotten, mit allen Menschen und allem Vieh.

Denn gerade „Gerechte“ glauben ja oft, mit dem Prinzip der ethischen Kausalität besser zu fahren als mit der Barmherzigkeit Gottes. Letztlich aber, und hier stimmen selbst der a-theistische Buddhismus und die abrahamitischen Religionen überein, ergibt sich daraus nur individuelles Leiden an der Welt, denn in der Welt gibt es keine personale Gerechtigkeit, nur allgemeine Folgen von (Un-)Moral, die auch den Einzelnen betreffen und letztlich immer negativ konnotiert sind – eben das allgemeine Prinzip der ethischen Kausalität, das auf niemanden Rücksicht nimmt und das schon gar keine (Er-)Lösung kennt.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.