Das Mandelbäumchen in Grönland

Es war einmal ein kleiner Mandelbaum, den ein böser Charakter und Pflanzenfeind an einem Frühlingsmorgen in Grönland eingepflanzt hatte. Dort stand der Baum an einer schlecht zugänglichen Straße in Sichtweite der Gletscherfelder, und nur ab und zu kam ein Eishase, Eisfuchs oder Eisbär, ganz selten ein Wanderer vorbei und wunderte sich, was ein Mandelbaum in Grönland macht.

Der Mandelbaum machte Folgendes: Er tat sein Bestes, ein guter Mandelbaum zu sein und im wüsten Klima nicht zugrunde zu gehen, und obwohl er sich größte Mühe gab, wurde das Wetter doch nicht besser. Genaugenommen war das Wetter auch nicht schlecht, es war einfach genau so, wie es nun mal in Grönland ist: sehr kalt, oft sogar frostig, eben leider, wie es Mandelbäumen nicht gut tut.

Mandelbaum
Mandelbaum

Grönland ist kein böses Land, es ist sogar ein grünes Land, viele Pflanzenarten fühlen sich dort eigentlich grundsätzlich wohl, wo nicht gerade die Eismassen lagern: niedere Sträucher, Gras vor allem, aber auch viele grelle bunte Blumen auf den Heideflächen, sogar seltene Orchideenarten, ja in den inneren Fjorden, wo es geschützter ist, da wachsen sogar kleine, frostfeste Bäume. Aber für Mandelbäume ist Grönland kein guter Ort. Zumindest nicht heute. Wäre der Mandelbaum ein paar Millionen Jahre früher in Grönland gewachsen, dann hätte er es angenehm warm gehabt, aber damals gab es noch keine Mandelbäume und diesen einen sowieso nicht. Wäre der Mandelbaum ein paar hundert Jahre später eingepflanzt worden, dann wäre – Klimawandel! – der Mandelbaum auch besser gewachsen, aber es hilft ja nichts, wir leben zu der Zeit und an dem Ort, wo wir leben: Im Heute, im Hier und im Jetzt.

Deshalb ging es dem Mandelbaum nicht sehr gut. Er trieb immer wieder von neuem Blätter, die ihm dann ein Frost hinwegraffte und der Eishauch hinterließ Schrunden und Risse an Stamm und Zweigen, sodass er in seinem einzigen Sommer – denn er hatte nur den einen – um Jahrzehnte alterte. Irgendwann fingen die Eisfüchse an, Wetten darauf abzuschließen, wann der Mandelbaum verenden würde. Denn jeder sah, dass der Mandelbaum litt. Da man allerdings nicht der Meinung war, dass der Mandelbaum überhaupt eine Chance hätte in der rauen Wirklichkeit zu überleben, wunderte man sich nur, warum er so lange durchhielt.

Aus Sicht des Mandelbaumes lag dies daran, dass er eigentlich als seine ureigene Bestimmung ansah, ein Mandelbaum zu sein, und dazu gehört: zu wachsen, zu treiben, zu blühen und Mandelfrüchte zu tragen, aber es gehört nicht zu der Bestimmung eines Mandelbaumes, einzugehen, weshalb er das auch nicht tat. Stattdessen kümmerte er vor sich hin, träumte von einem besseren Leben und hoffte darauf, dass es endlich warm in Grönland würde, schlicht: Er hoffte auf ein Wunder. Tatsächlich schaffte er es eines Tages im arktischen Hochsommer wie durch ein Wunder unter Aufwendung all seiner Kraft, nicht nur Blätter, sondern sogar ein paar Blüten zu treiben. Aber an diesem Tag graupelte und regnete es und es kam keine Biene vorbei. Und selbst wenn eine vorbeigeschaut hätte, es gibt ja durchaus Bienen in Grönland, dann hätte die Frucht keine Chance gehabt. Nach drei Tagen, als der nächste Frost kam, war der Baum wieder kahl.

Leider muss ich sagen, dass die Geschichte für den Mandelbaum nicht gut ausging. Denn irgendwann war der Sommer vorbei, und das kommt in Grönland doch recht schnell und gründlich. Wir sind geneigt, zu vermuten, dass dies genauso kommen musste, doch weder sollten wir von einem Mandelbaum erwarten, dass er seine Bestimmung verleugnet und einfach eingeht, noch sollten wir einfältig dem Baumpflanzer alle Schuld zuschieben. Wir können uns selbst nicht so klammheimlich aus der Verantwortung stehlen, indem wir sagen, die Hoffnung war umsonst, es gab keine Möglichkeit. Denn Möglichkeiten gibt es immer, solange wir an sie glauben, hoffen. Wo Glaube und Hoffnung sind, ist Zukunft, die Zukunft ist die Summe von Möglichkeiten, und eine davon wäre vielleicht die richtige gewesen. Beispielsweise hätte man dem Mandelbaum ganz einfach ein beheiztes Gewächshaus bauen können, denn in Gewächshäusern wachsen Mandelbäume sogar in der Arktis gut, wachsen, gedeien und tragen Früchte, sogar viele Sommer und selbst im tiefsten Winter. Es hätte nur jemand rechtzeitig auf die Idee kommen müssen und die richtigen Schritte unternehmen.

Doch da dies niemand tat, endet diese Geschichte im Unglück. Denn das Gute ist immer nur das Gute, das man auch wirklich tut, nicht aber das, was nur hätte sein können.

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Über Martin Dühning 1501 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.