Es war einmal… – diesen schönen, gleichsam zeitlos gültigen Satz hören wir immer wieder, beispielsweise wenn unsere mühsam zusammengeklaubten Aktien beim Börsencrash all ihren Wert verloren, uns quasi Gold zu Stroh ward, wenn uns liebe Freunde verlassen haben, fortzogen wie die sieben Schwäne, uns Lohn oder Urlaub gestutzt wurde wie dem Berggeist der Bart oder wenn der böse Nachbar aus Rache für seinen Kirschbaum nachts mit der Motorsäge unser Apfelbäumchen fällt wie die Sterntaler vom Himmel.
Freilich, dann verspüren wir in der Tiefe unseres Herzens, dass das Leben letztlich ein tragisches ist, ja, wir entsinnen uns entfernt und halb im Traume an jene brunnentiefen Grundwahrheiten, die uns und selbst unserer guten alten Großmutter in der Hektik des Alltags meist kollektiv unterbewusst bleiben.
ES – WAR – EINMAL: Die drei Worte dieser alten, numinosen Initiationsformel vermögen dem Unkundigen naiv, wenn nicht gar primitiv erscheinen, und doch verdichten sie in geradezu trinitarischer Dreiheit, was uns sterbliche Menschen umtreibt.
- ES: Der Anfang bleibt in seinem Beginn immer vage, kann für alles stehen, aber auch für etwas ganz Bestimmtes, das nicht genannt werden soll oder das uns noch unbekannt ist. Wie auch das Leben erschließt „Es“ seinen Bedeutungssinn erst im Verlauf, prozessual, deutet alles auf eine Reise, vielleicht sogar eine Pilgersituation hin.
- Das zweite Wort, gleichsam ontologische Mitte, bildet das verbindende Prädikat: „war“ – die Vergangenheitsform vom Sein, ein gewordenes Wesen also, jene Grundsituation des Seins in der Welt, das so gänzlich allgemein menschlich, aber doch auch zutiefst philosophisch transzendental vorgreift auf das dritte und letzte Wort:
- EINMAL. „Einmal“ war es – nicht zweimal, dreimal, viermal – oder gar in beliebiger Vielheit: EINMAL und nie wieder! Ja, wie alles Wesentliche in unserem Leben ist der Zustand des Gewordenseins einzigartig und als Faktum so unauslöschlich wie unwiederholbar: Eine in zeitlosem Präteritum gesetzte Tatsache, die uns wie alle Sterbliche einzigartig macht. Und doch entgeht uns so oft diese Weisheit, die wir im Lesen meist übergehen wie im Alltag gänzlich ignorieren, weil wir als kleinliche auf uns selbst begrenzte Wesen einfach nichts Letztgültiges zu verstehen im Stande sind.
Doch die Mutter Literatur eilt uns mit Märchen, Sagen und Legenden zu Hilfe, wo unser kleiner Verstand oft Kleinbei gibt: in tiefgründigen Symbolen und Archetypen dürfen wir uns verstanden und aufgehoben fühlen; bangen mit dem kleinen, vollkommen unschuldigen Rotkäppchen um ihren armen alten Wolf, verspeisen im Lebenshunger unserer Tage sieben Geißlein, die uns später sicher wie Steine im Magen liegen werden, tanzen mit der Stiefmutter ungeduldig auf glühenden Kohlen fremder Hochzeiten oder bemitleiden das arme Rumpelstilzchen, wenn es – uns gleich – mal wieder um seinen gerechten Lohn betrogen wurde und sich darob entzwei reißt. Ja, wie auch im wahren Leben siegt in den Märchen zuletzt stets das oberflächlich Gute, in der Tiefe aber manifestiert sich jenes tragische Ungenügen, was nicht zuletzt auch manchem Hans im Glück unserer Tage am Zeugnistage widerfährt.
Sie werden sich nun unwillkürlich fragen, was das nun aber mit Ihnen zu tun hat, mit Ihrem Leben oder gar mit der unlängst angekündigten Steampunk-Ausgabe von Anastratin? Nun, so genau verstehen wir das auch noch nicht, aber so ist das nun eben mit dem kollektiven Unbewussten im Leben: Wir alle wissen weniger, als die Klügsten zu meinen glauben, und verstünden wir davon doch nur halb so wenig, wie Ihnen lieb wäre, wäre es immer noch doppelt soviel, wie uns allen am Ende blüht, gleich nach dem gemeinhin bekannten Satz im Märchen, wenn es wieder heißt:
„Und wenn Sie nicht gestorben sind, so leben Sie noch heute…“
Jean Trecitina,
stellvertretender Chefredakteur
(in Vertretung für Martin Dühning, welcher derzeit anderweitig beschäftigt ist)