Das Kreuz von hinten…

Wegkreuz am 3. März 2013 - der Klettgauhimmel war nach langer Zeit mal wieder blau, doch es blieb noch eisig kalt.
Wegkreuz am 3. März 2013 - der Klettgauhimmel war nach langer Zeit mal wieder blau, doch es blieb noch eisig kalt.

Die Karfreitagsliturgie ist einer der wenigen Orte, in welchem man heutezutage noch das Kruzifix von hinten erblicken kann. Nicht Angesicht zu Angesicht, sondern rückwirkend, wenn Priester und Ministranten traurig vorbei gezogen sind.

Mit dem Kreuz haben wir es ja nicht mehr so in unserer Gesellschaft. Tut sich mal eines auf in unserem klinisch bereinigten Blickfeld, hängen wir es schnell ab, fahren an den Straßenrandunfallkreuzen beschleunigt vorbei oder ignorieren so gut es geht. Zurückblicken auf die Kreuze im Leben wollen wir aber in keinem Fall und daher gibt es eigentlich keine Gelegenheiten mehr, ein Kruzifix von hinten zu betrachten. Dabei offenbart gerade der Rückblick, was da überhaupt geschehen ist.

Ist das Kreuz gerade vorüber gegangen, offenbaren sich indirekt Einblicke, die sonst vom Symbolgeröll oder allerlei Zierornamenten verborgen werden. Die Gemeinde der Karfreitagsliturgie blickt entsetzt über eine solche Botschaft, dass der Gerechte ermordet ist, der Sohn Gottes, und der liebe Gott schaute anscheinend einfach zu, ganz anders als im heutigen Narrativ der Medien, wo das Gute binnen 90 Minuten heldenhaft zu siegen hat, sonst taugt es in unseren Augen nicht. Karfreitag: Die einzige Liturgie, welche den Anstoß der ungeheuren Tat unabgemildert wirken lässt – denn am Ende zerstreut man sich und am Karsamstag bleibt der Altar leer. Das Kreuz ist vorüber gegangen: Ein wahrer Schrecken, eine verschreckende Tatsache. Weder im prunkvollen Ostermorgengottesdienst, noch in der allzu goldigen Krippe, vielleicht sonst höchstens noch im Dunkel der beginnenden Osternachtsmesse wirkt das Christliche so stark, aber eigentlich auch unsichtbar. Bedrückende Stille.

Ist das Kreuz gerade vorüber gegangen, nicht mehr habhaft, kann man den Blicken der Gläubigen, jener also, die sich nicht abwenden oder vom Zierrat der Festle-Industrie ablenken lassen, den Schauer des Heiligen noch ansehen.

Ist das Kreuz in unserem konkreten Leben gerade vorüber gegangen, gewinnen wir an Tiefe: eine tiefe Verzweiflung über das Leid und eine Hilflosigkeit, die zu fairem Handeln anspornt, sodass man dann anderen konkreten Notleidenden nicht mehr die Türe vor der Nase zuschlagen will, weil sie das persönliche Brauchtum angeblich stören. Der Schauder des Kreuzes ist wohl Verzweiflung, die andererseits durch ihre Dringlichkeit vermeidet, ethischen Anspruch als politisches Kalkül auszunutzen. Ist das Kreuz gerade vorüber gegangen, fühlt das Herz noch authentisch, wenngleich die Authenzität auch durch den unmittelbaren Schrecken erkauft ist, dass wir Menschen nicht nur uns gegenseitig, sondern bisweilen sogar Gott selbst morden wollen.

Ist das Kreuz vorüber gegangen und nicht mehr fassbar, wenn keine Hoffnung mehr besteht, dass etwas auferweckt wird; wenn das Kreuz eine rein irdisch-menschliche Tragödie bleibt, dann ist der Glaube, aller Authenzität der Gefühle zum Trotz, TOT und alles, was darauf folgt, bleibt letztlich eine Reflexhandlung der Schrecken. Dann feiern wir nur die große Drohbotschaft der Katastrophen. So verkommt das Mitgefühl zur moralischen Posse, die Wahrheit zur Notlüge der politischen Correctness und die Tugend zu oberflächlich-spießbügerlicher Sittlichkeit, schließlich zur reinen Fassade; dann bleibt das Gute kraftlos, weil es letztlich ohne festen Grund ist. Wir sind vielleicht heute nur noch eine punktuell im Verlust verstörte Karfreitagsgemeinschaft.

Ist das Kreuz gerade vorüber gegangen, das Existenziale noch wahrhaft spürbar, dann darf man sich nicht damit begnügen, man muss Gott beim Namen nennen, der ein Versprechen ist, das einzulösen Teil seines Bundes mit uns ist. Tut man das nicht, warum auch immer, dann endet Gott im Kreuz und die Welt in einem Golgotha. Gottes letztes Wort ist nicht das Kreuz, sondern sein Name – beides aber gehört unwidersprüchlich zusammen. Man darf diesen Namen nicht verschweigen, man muss ihn anrufen, einfordern. Gott ist der „Ich-bin-da“ – selbst in der Stunde des Kreuzes und auch dann, wenn dieses Kreuz schon vorüber gegangen ist. Will man dieses Versprechen aber eingelöst haben, dann muss das immer authentisch und persönlich ausfallen. Wahrer Glaube bleibt nicht Gefühl, wahrer Glaube ist ein bekennender.

Das kann man nicht delegieren: Man muss das Kreuz auch selbst von der anderen Seite betrachten, im gelebten Davor, nicht nur im historischen Danach. Wo dies nicht mehr geschieht, weht der Geist nicht mehr, ist kein Lebensfeuer mehr, ruhen nur Aschepötte verblassenden Brauchtums, aus denen man im schlimmsten Falle sogar neue Kreuze gegeneinander schmieden kann, vielleicht sogar welche mit Haken.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.