Nun hat Donald Trump also doch noch die US-Präsidentschaftswahlen gewonnen, trotz oder wegen eines völlig enthemmten Wahlkampfes. Verwunderlich scheint das letztlich nicht, denn er liegt damit voll im Trend, und nicht nur weit weg in Amerika, sondern auch in Deutschland und selbst am Hochrhein.
Ich möchte mich nicht in die Schar all jener einreihen, die finden, dass früher alles besser war – denn es war früher nicht besser, nur anders. Auch scheint mir durchaus noch offen, wie sich die Dinge weltpolitisch weiterentwickeln werden, denn als Historiker beurteile ich Sachverhalte lieber im Rückblick, und die Zukunft ist ja noch offen. Der Kosmos ist vielgestaltig und meistens kommt es anders, als man denkt. Dennoch liegt es scheinbar voll im Trend, dass sich derjenige durchsetzt, der einfach vollendete Tatsachen setzt, statt derjenige, der mit Vernunft argumentiert. Dazu kann man den Blick durchaus auch nach Asien, nach Afrika, in den Orient oder eben auch gerade nach Europa wenden.
Es wurden seit Bekanntwerden der Wahlergebnisse, aber auch schon nach dem „überraschenden“ Brexit viele kluge Überlegungen getätigt, wie es kommt, dass „nüchterne Kalkulationen“ immer häufiger fehlgehen, dass immer häufiger von wilden Machern „unvorhersehbare“, ja „unmögliche“ Tatsachen gesetzt werden, immer häufiger die Bahnen „vernünftiger“ Gesellschaftskonventionen gebrochen werden – Obwohl es doch einleuchten müsste, dass allzu egoistische Macherei der Gesamtgesellschaft schaden muss.
Manche bringen nun wieder Dunlop Youngs These vom Ende der Meritokratie ins Spiel, weil der Bildungs- und Leistungsadel eben doch in keiner Demokratie die Mehrheit stellt, die „Abgehängten“, die Mehrheit der Verlierer, sich an der „Vernunftelite“ rächen müssten.
Andere geben der „alternativlosen Politik“ des „Establishments“ die Schuld, dass sich die Eliten der Berufspolitiker „vom Volk“ zu sehr entfernt hätten, wieder andere mahnen, dass die schmerzlichen Erfahrungen aus der letzten Vorkriegszeit inzwischen in kollektive Vergessenheit geraten seien.
Eine weitere Erklärung für vielerlei aktuelle Veränderungen meinen manche im medialen Wandel zu finden, dass die objektive Öffentlichkeit schwindet, den Massenmedien die Diskurshoheit entzogen wurde durch eine völlig neuartige Umsetzung der Brecht’schen Radiotheorie im „wilden Cyberspace“: die „sozialen Netzwerke“ als Mittel zur völligen Subjektivierung jeglicher Informationswirklichkeit – allerdings mit dem schwerwiegenden Nebeneffekt von „Filterblasen“ – jeder lebe nur in seiner eigenen Welt, die mit anderen nur kollidieren könne.
Tatsächlich scheint es sich aus meiner Sicht beim Erstarken des „Populismus“ weniger um ein politisches, auch nicht um ein rein medientechnisches, sondern primär um ein zivilisatorisches Problem zu handeln. Denn im Grunde genommen handelt es sich nicht um ein Aufkommen von Demagogen oder Zerfasern von Grundwahrheiten, sondern um einen neuerlichen Siegeszug der Pöbelei, eine grundgesellschaftliche Enthemmung, eine Verrohung. Man muss auch gar nicht in die Weltpolitik gehen, um diesen zu verifizieren. Im Kleinen kann man ihn nämlich auch schon am Hochrhein beobachten, selbst in meiner direkten Nachbarschaft, wo sich die Nachbarn immer häufiger einfach Selbstbedienung in meinem Haus und Garten erlauben – sei es, dass sie sich ohne meine Erlaubnis in meinen Stromkreis einhängen, oder „einfach so“ die Blumen im Garten abschneiden, oder ganz frech das Grundstück beparken – eben einfach vollendete Tatsachen schaffen, aber auch noch im festen Glauben, sie hätten ja das Recht dazu.
Oder auch im öffentlichen Nahverkehr, wo ich tagtäglich Frechheiten aller Art erlebe – beispielsweise dass Leute, übrigens meist nicht Jugendliche, ihren Müll einfach im Zug herumwerfen, dreiste Raucher, die sich um Rauchverbote einen Teufel scheren, ja sogar manchmal gerade aus Protest rauchen – aber zunehmend auch ältere Wutbürger, die angesichts der Zustände handgreiflich ausrasten. Zweimal schon bin ich am Waldshuter Bahnhof in eine Beinaheschlägerei geraten, wo mutwillige Raucher und entrüstete Nichtsraucher handfest aneinander gerieten, hätte uns der Zug nicht doch noch im letzten Moment gerettet. Von Bahnpersonal oder Polizei war übrigens nirgends etwas zu sehen. Ordnungshüter glänzen, bedingt durch allzu penible personale Einsparungsmaßnahmen, meist durch Abwesenheit. Ihre Konflikte tragen die Wutbürger also ganz allein unter sich aus.
Die vorläufige Spitze dieser gesellschaftlichen Entgleisungen markierte am Donnerstag, den 10. November eine Auseinandersetzung zwischen einem Busfahrer und einem Wildparker in Unterlauchringen an der Haltestelle „Deutscher Kaiser“. Dass beide Fahrer hupend aneinandergerieten und sich anschließend verbal bekriegten würde ich sogar noch als „normalen“ Alltag im öffentlichen Nahverkehr abhaken, aber die ganze Sache endete in wüsten Beschimpfungen, bösen Handzeichen und damit, dass der Busfahrer schließlich seinem Kontrahenten sein Hinterteil zeigte, worauf dieser endlich, ob dieser Dreistigkeit entgeistert, dem Bus doch noch Platz machte. Ich wünschte mich da mal wieder, wie so oft weit, weit weg…
Es dürfte kaum verwundern, dass mir das Benutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln, aber teils auch schon das ganze Leben im grau-getünchten Lauchringen, am allzu profitorientierten Hochrhein immer mehr wie ein beständiger Spießrutenlauf durch eifrig gelebte Unmoral vorkommt, den ich katholisch-schmerzerfüllt auf mich nehme; und dass mich schon länger die Sehnsucht gepackt hat, vielleicht einfach alles hier in Lauchringen, am Hochrhein und in Deutschland hinzuwerfen und der niedergehenden Zivilgesellschaft einfach Lebewohl zu sagen: Auswandern in eine bessere Welt…
Ach ja, wenn es denn nur so einfach wäre! Denn wohin sollte man sich wenden, „Go West!“ ist ja wohl auch nicht mehr. Dort herrscht nun selbst in „God’s own country“ wieder „Wilder Westen“, der Osten und Süden verwildert auch zusehends. Ja, ist es denn in der globalen Welt nicht inzwischen überall so?
Dreistigkeit siegt – und es bleibt leider oft nur noch die Dreistigkeit, mit der man parieren kann. Über einen Zustand mangelnder Höflichkeit sind wir leider längst hinaus, zumal es ja durchaus auch in Deutschland im ländlichen Südschwarzwald noch überdurchschnittlich viele höfliche und vernünftige Zeitgenossen gibt – bloß: Sie setzen sich in unserer Gesellschaft leider nicht mehr durch, denn gegen die Wilden greifen moralische Sanktionen nicht mehr: In der völlig pluralen und individualisierten Gesellschaft gewinnt der, welcher Fakten setzt, nicht wer wahrhaftig, klug oder gar moralisch weise handelt. Denn im verabsolutierten Egoismus ist ohnehin alles nur noch Ansichtssache, was auf den ersten Blick sehr liberal anmutet – aber letzlich der liberalen Gesellschaft den Todesstoß versetzt; das spricht nicht für liberale Gesellschaftskultur, sondern ist gelebter Sozialdarwinismus: Der Stärkere paukt sich durch. Und deshalb gilt neuerdings immer häufiger wieder das Faustrecht.
Das ist durchaus kein „postdemokratischer“ Zustand mehr – postdemokratisch wäre, wenn Gerichte, Richter und Rechtsanwälte nunmehr juristisch retten müssten, was demokratisch nicht mehr verhandelbar ist. Aber auch das ist ja nicht mehr relevant für die Faustkämpfer. Wir sind wohl leider bald bereits beim postzivilisatorischen Zerfallszustand angelangt, wo Konflikte nicht mehr durch staatlich-gesellschaftliche Instanzen, sondern in Fehden und Kämpfen, letztlich mit Gewalt geklärt werden sollen. Das ist tatsächlich eine neue Vorkriegszeit, die allerdings weniger den Untergang des Abendlandes markiert als eher einen markanten Wendepunkt der weltweiten Hochkultur. Und ja: Zum Glück lebe ich im ländlichen Südschwarzwald, wo es vielleicht gar nicht ganz so weit kommen wird.
Bleibt mir als Historiker und Theologe immerhin noch die Feststellung, dass es auch in früheren Zeitaltern schon Phasen zivilisatorischer Verrohung gab, und es gerade diese Zeiten waren, die große moralische Persönlichkeiten hervorbrachten, Lichter im Schatten: Vordenker, Philosophen und Heilige, wie ein Martin von Tours, ein Nikolaus von Myra, ein Albert Schweitzer oder ein Martin Luther King.
Moralisch-zivilisatorische Lichtgestalten statt gesellschaftlicher Faustkämpfer: Wir hätten sie heute so dringend wieder nötig!