Der Tag verlief im Prinzip wie jeder andere in der jüngeren Geschichte Johtweiers. Er war an Bedeutungslosigkeit zunächst nicht unterscheidbar von den Tagen der Wochen und Monate davor. Die Menschen aus dem Nachbarland fielen in ihren üblichen Scharen über die Geschäfte des kleinen Städtchens her. Wobei Städtchen eigentlich nicht das richtige Wort war.
Vor gar nicht allzu langer Zeit war Johtweier ein Bauerndorf gewesen. Und das viele hundert Jahre lang. Und davor, irgendwann vor etwas weniger als einem Jahrtausend, hatte ein in dieser Region inzwischen ausgestorbenes Adelsgeschlecht hier seinen Hauptsitz errichtet (einen von dreizehn), und Johtweier war seinerzeit bekannt geworden für seine repräsentativen und soliden Granitbauten, die sich – vielleicht auch mangels irgendwelcher Angreifer – als uneinnehmbar erwiesen. Und doch war letztlich nichts Sichtbares übriggeblieben, abgesehen von ein paar vergilbten Urkunden. Die späteren Bewohner waren Praktiker. Sie sahen keinen Sinn in verlassenen repräsentativen Festungsbauten, wo ihre eigenen Häuser aus Holz und Lehm eine Aufwertung durch beständigere Baumaterialien doch nur zu gut gebrauchen konnten. Und so trugen sie die Türme und Zinnen, Mauern und Fundamente über die Jahrhunderte ab. Stein für Stein. Bis von den mächtigen Anlagen der Fürsten von einst nichts mehr übrig war als ein beinahe vergessenes Gerücht.
Mittlerweile war Johtweier freilich nur noch berühmt für seine zahlreichen Discounter, und gemeinhin kennt man es heutzutage, wenn überhaupt, bestenfalls als das Einkaufszentrum von Reichenheim, der nahegelegenen Metropole im angrenzenden Spießland. Die Spießländer gehören zu jenen Völkern von Albitu, die sich nie dem Staatenbündnis des Planeten angeschlossen haben, und von denen folglich auch keine Abgesandten im Olvenias des salomenischen Bündnisses zu finden sind, obgleich sich der gesamte Planet vor längerer Zeit durch Mehrheitsentscheid dieser interstellaren Organisation angeschlossen hat. Genau genommen gehörte Albitu sogar zu den Gründungsmitgliedern. Aber wie dem auch sei, bei den Bürgern von Emolas sind die Spießländer gemeinhin ein wenig verrufen, was insbesondere auf den regen Einkaufstourismus in die Grenzorte zurückgeführt werden muss, wo sich durch das arrogante Auftreten der deutlich besser verdienenden Einkäufer und die voreingenommene Negativhaltung der Lokalbevölkerung sowie das Anbiedern ihrer gewählten politischen Vertreter und der Geschäftsleute bei den finanzstarken Nachbarn eine gewisse Feindseligkeit beobachten lässt, die sich in den letzten Jahren immer weiter zugespitzt hat.
Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass der spießländische Autofahrer nicht anhielt, ja kaum länger als für den Bruchteil einer Sekunde erschrocken auf die Bremse trat, ehe er wieder aufs Gas wechselte, als an einem stürmischen und verregneten Nachmittag im April ein für ein Insekt ein wenig zu groß geratenes Wesen gegen die Windschutzscheibe seines überbreiten Geländewagens mit Allradantrieb knallte und bewusstlos auf die Straße stürzte. Der Unfallfahrer fuhr weiter, ohne sich auch nur im Geringsten irgendeiner Schuld bewusst zu sein, gefolgt von einer endlos scheinenden Kolonne weiterer Fahrzeuge, die mehrheitlich auf dem Weg zurück nach Spießland waren um ihre Einkäufe nach Hause zu schaffen.
Das glücklose Insekt unterdessen war gar keines. Es war erstens kein Insekt, sondern eine kleine Fee, eine Zwergfee namens Luisa Amiratu, um genau zu sein. Und sie war, als sie gerade so auf dem Balkon gesessen und hingebungsvoll über den Geschmack von Karamellbonbons sinniert hatte, von einer Windböe erfasst und davon getragen worden. Zwar hatte sie noch wild versucht mit ihren zarten Flügeln zu schlagen und zurück zu fliegen. Doch war sie zuerst mit dem Kopf gegen eine Straßenlaterne gedonnert, sodass sie die Sterne tanzen sah. Und bis sie die Orientierung wiedergefunden hatte, hatte sie bereits das riesige Auto des anonymen Spießländers erfasst. An das, was danach geschah, erinnerte sie sich nicht.
Zweitens war sie auch nicht glücklos. Denn wäre sie es gewesen, so hätte sie unter einem der breiten Reifen des Rush Hour Verkehrs ein klägliches Ende gefunden. Stattdessen landete sie unsanft in der Mitte der Fahrbahn.Und Oti, der berühmt-berüchtigte Tigerkater ihres Viertels, hatte es beobachtet.
Oti hatte schon sehr lange ein Auge auf die kleine Luisa geworden. Eigentlich schon so lange sie sich erinnern konnte. Es gab da dieses unheimliche Spiel zwischen ihnen. Oti legte sich auf die Lauer und versuchte sie zu erwischen, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot. Und sie schaffte es immer im letzten Moment geschickt auszuweichen und außer Reichweite zu flattern. Jetzt aber lag sie besinnungslos auf der Fahrbahn. Und Oti hatte mit wachsamen Augen ihren Sturz verfolgt. Blitzschnell, mit der Erfahrung eines langjährigen Königs der Straße, wand er sich zwischen den vorbei brausenden Autos hindurch, packte die kleine Fee, sprang mit seiner Beute triumphierend auf den Gehweg und verschwand dann im Gebüsch, bevor auch nur ein Zweibeiner in Johtweier mitbekommen hatte, was geschehen war. Dort saß er, augenscheinlich in völliger Gelassenheit, und begutachtete seinen unverhofften Fang, während sein Schwanz genüsslich hin und her zuckte. Er stupste die kleine Fee ganz sanft an, und schob sie dann mit vorsichtigen Pfötchen ein wenig umher, als warte er darauf, dass wieder Leben in ihren erschlafften Körper zurückkehre. Und wenn ihn jemand dabei gesehen hätte, der ihn nicht kannte, so hätte ihn der Anblick bestimmt zutiefst gerührt. Oti war ein Meister der Behutsamkeit. Er hatte noch jede Maus, die er gefangen hatte, aus ihrer Schockstarre zurückgebracht, um noch ein Weilchen mit ihr zu spielen und sich die Zeit zu vertreiben, ehe er die Lust verlor oder der Hunger sich meldete.
Die kleine Zwergfee aber war zu tief gefallen oder zu hart gelandet. Sie war einfach nicht wach zu bekommen. Und von oberhalb der Wohnung, von deren Balkon sie gestürzt war, dröhnte das hysterische Gekläffe Filous. Der hyperaktive Kleinhund mit seinem immerwährenden Kontrollzwang hatte natürlich alles mitangesehen. Oti kannte in ganz Johtweier kein unentspannteres Wesen als diesen furchtbaren Köter! Selbst der Dorfpolizist kam in diesem Punkt nicht an ihn heran. Genau der aber trat in diesem Augenblick um die Ecke. Wilfried Zunderer. Und weil in der jüngeren Vergangenheit einige Beschwerden bei der Gemeindeverwaltung eingegangen waren über sinistre Gestalten, die in der Nachbarschaft herumlungerten, war der an chronischem Bluthochdruck leidende Herr sofort in Alarmbereitschaft, als er das Gebell vernahm. Filou steigerte sich unterdessen immer inbrünstiger in den blechernen Klang seiner eigenen Stimme hinein. Der Polizeibeamte kniff die Augen zusammen und prüfte mit kritischem Blick die Umgebung. Weil er aber nichts Verdächtiges sehen konnte, was ihn umso misstrauischer machte, klingelte er kurzerhand bei Filous Herrchen.
Der alte Mann, dem der geistig unterforderte Kläffer gehörte, brauchte eine ganze Weile um mit seinem Rollator die Tür zu erreichen und den Knopf zu betätigen, der die Haustüre öffnete. Er hörte auch nicht mehr so gut und hatte folglich keine Ahnung, was die ganze Aufregung sollte. Verwirrt kam er deshalb aus seiner Wohnungstür und spähte in das Treppenhaus hinunter um zu sehen, wer der unerwartete Besucher sein mochte. In diesem Augenblick schoss sein Hund an ihm vorbei, jagte in einem Affenzahn die Stufen hinunter und entwischte durch die Beine des Polizisten, genau in dem Moment, als Wilfried Zunderer die Eingangstüre hinter sich schließen wollte.
Oti ließ vor lauter Schreck seine Beute liegen und rettete sich flink auf den nächsten Baum. So fanden Filou und der Dorfpolizist die bewusstlose Zwergfee.
Luisa erwachte in der Universitätsklinik von Wendenhofen, wohin man sie mit dem Rettungshubschrauber geflogen hatte.
Mimi und Josy hatten eine Gute Besserung Karte auf ihren Nachttisch gestellt, die dreimal so groß war wie die kleine Fee selbst. Luisa konnte sie vom Bett aus lesen.
Komm schnell wieder auf die Beine!
Die WG macht ohne Dich keinen Spaß!
Wenn Du zurückkommst, schmeißen
wir Dir eine Schlagerparty, wie Johtweier
sie niemals vergessen wird!
Wir vermissen Dich!
Josy & Mimi
Vorne drauf waren ein Marienkäfer, ein Hufeisen, ein Herz und ein Kleeblatt gezeichnet. Josy und Mimi mochten sie anscheinend sehr. Das beunruhigte Luisa ziemlich, denn sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wer die beiden waren. Klar, sie waren ihre Mitbewohner in Johtweier. Aber offen gestanden wusste sie noch nicht einmal, wo Johtweier lag oder dass sie in einer Wohngemeinschaft mit zwei Mädels wohnte. Die Vorstellung, dass die beiden hier aufkreuzen könnten, versetzte sie in große Angst. Was war, wenn sie sie nicht erkannte? Sie zuckte zusammen, als eine in weiß gekleidete junge Dame zur Tür herein kam. Die Frau schien durch Luisas plötzliche Bewegung ebenfalls ganz erschrocken.
„Sie sind ja wach“, rief sie und rannte wieder zur Tür hinaus.
„Nein, bitte nicht…“ …den anderen sagen, wollte Luisa noch hinterher rufen, aber ihre Stimme drang kaum bis an ihr eigenes Ohr. Es dauerte nicht lange, bis die Dame mit zwei weitere Frauen
wieder im Zimmer stand.
„Mimi? Josy?“, tastete Luisa vorsichtig vor.
„Ihre Freunde sind jetzt nicht hier. Aber sie werden sicher kommen, wenn sie hören, dass Sie aufgewacht sind, Frau Amiratu. Sie haben ziemlich lange im Koma gelegen, müssen Sie wissen. Sieben Monate, um genau zu sein. Wir waren uns gar nicht sicher, ob Sie überhaupt je wieder aufwachen. Wir haben zwar Fachpersonal mit Spezialausbildungen für Kleinwesen im Haus. Aber Sie waren schon ein ziemlich herausfordernder Fall.“
Mimi war, wie Luisa bald herausfand, ein etwa vierzigjähriger Geigenbauer namens Milton. Und Josy, eigentlich Josephine, ging als pensionierte Schlagersängerin bereits auf die Siebzig zu. Luisa konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum sie mit diesen beiden Menschen in einer – im übrigen ziemlich zugemüllten – WG gelebt hatte. Man hatte inzwischen einen neuen Mieter für ihr Zimmer gefunden, und so hauste Luisa, sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, notgedrungen in einer Pappschachtel auf dem Flur, zahlte dabei aber den vollen Mietpreis. Von ihrem vergangenen Leben wusste sie nichts mehr. Überhaupt nichts. Sie konnte sich einfach nicht erinnern. Und es frustrierte sie sehr, wenn sie merkte, dass sie die seltsamen Erwartungen ihrer Mitbewohner offensichtlich nicht erfüllte. Außerdem verstand sie nicht, was sie an diesem kommerzregierten Kaff jemals gefunden haben mochte.
Und so ergriff sie, als sie eines morgens in der Zeitung ein Ausbildungsangebot zur salomenischen Diplomatin entdeckte, die Gelegenheit beim Schopf und bewarb sich umgehend.
Zwei Wochen später verließ sie Johtweier.
* * *