Nach einem einjährigen Hin und Her wurde Thomas Williams, ehemaliger Vizekönig von Südninda, nun vom Hochgericht in Julverne wegen Freiheitsberaubung und Rechtsbeugung verurteilt.
Damit kommt ein langwieriger Rechtsstreit zwischen dem ehemaligen Vizekönig Sir Thomas Williams und den Justizbehörden von Ninda zum Abschluss, der in den Vereinigten Provinzen seinen Anfang nahm, als Williams dort wegen mutmaßlicher Freiheitsberaubung durch die amtierende Vizekönigin Luisa Amiratu angezeigt wurde. Diese warf ihm vor, Earl Redlocks, einen Matrosen und ehemaligen Piraten, unter Umgehung der örtlichen Gerichtsbarkeit und ohne ordentlichen Gerichtsprozess fast 80 Jahre lang auf seiner privaten Fregatte inhaftiert zu haben. Der Vorgang war durch Zufall bei einer regulären Schiffsinspektion in Milony Island ans Licht gekommen.
Der Gerichtshof von Südninda verurteilte Williams daraufhin, in Anbetracht von Redlocks Vorstrafenregister und in Anerkennung von Williams‘ großen Leistungen für die Vereinigten Provinzen, zu einer vergleichsweise milden Strafe und Entschädigungszahlungen. Dagegen erhob Williams Einspruch. Zunächst plädierten Williams und seine Anwälte darauf, dass für seine private Fregatte die föderale Seegerichtsbarkeit gelte, womit Williams als Schiffsführer die volle Gerichtsbarkeit zugestanden wäre. Obwohl die örtlichen Gerichte dieser Argumentation bereits Folge leisten wollten, legte Vizekönigin Luisa die Sache in einem Eilantrag der Nitramischen Volksversammlung vor, welche entschied, dass die Binnenmeere von Ninda wegen ihrer geringen Ausmaße noch keine interföderalen Seezonen seien.
Den nächsten Einspruch, diesmal beim Kaiser, erhob Williams‘ Verteidigung mit Hinweis darauf, dass Williams zum Zeitpunkt der Inhaftierung Vizekönig von Südninda gewesen sei, womit ihm richterliche Vollmachten zugestanden hätten. Der Kaiser stimmte Williams dahingehend zu, dass die Inhaftierung noch in dessen Amtszeit als kaiserlicher Stellvertreter gefallen sei, doch verwies er auch darauf, dass seine rechtlichen Befugnisse als Vizekönig mit Ablauf des Mandats im Jahre 444 a. C., also vor bereits 79 Jahren, verfallen seien. Williams hätte daher Earl Redlocks mit Ablauf seiner Amtszeit freilassen oder zumindest in ein örtliches Gefängnis überstellen müssen. Deshalb lehnte der Kaiser den Einspruch ab. Williams‘ privates Handeln sei nicht durch kaiserliche Bevollmächtigung zu entschuldigen.
Daraufhin verwiesen Williams und seine Anwälte darauf, dass Williams aufgrund seiner Nobilitierung als Squire auf seinem Schiff besondere Befugnisse zuständen, denn die territorialen Sonderrechte eines Squires seien analog auf Seegerichtsbarkeit anwendbar. Auch dies wurde nach mehrmonatigen Verhandlungen in einem separaten Prozess von einem Kassationsgerichtshof in Julverne abgelehnt: Aus der Eignerschaft eines Schiffes und einem Adelstitel, der in Anerkennung dienstlicher Leistungen als Vizekönig verliehen worden sei, sei keine außerordentliche Seegerichtsbarkeit konstruierbar. Auch Williams‘ Argumentation, die Inhaftierung von Redlocks sei zum Schutze der Bevölkerung und im Sinne des Allgemeinwohls geschehen, ließ das Kassationsgericht nicht gelten: Es sei die Aufgabe der Küstenwache und nicht privater Seeleute, für die öffentliche Ordnung zu sorgen. Die achtzigjährige Inhaftierung des Kleinkriminellen Redlocks sei im Übrigen völlig unverhältnismäßig gewesen.
Nunmehr verlegte Williams‘ Anwälte ihre Argumentation mittels einer Musteraufsichtsklage darauf, dass die Fregatte in der Metropolis von Ventadorn registriert sei und die Sache folglich unter die Gerichtsbarkeit von Ventadorn falle, nicht aber unter die von Südninda, womit die Anzeige in Milony Island und der daraufhin angestrengte Gerichtsprozess gegen das föderale Prozessrecht verstoße. Nach einem weiteren dreimonatigen Rechtsstreit wurde dem von den föderalen Behörden stattgegeben, die Urteile aus Verfahrensgründen wieder aufgehoben und der Fall nach Ventadorn zurückverwiesen, sehr zum Ärger der Vizekönigin, die ihrem Unmut über die „juristischen Strategiespielchen“ durch Williams mehrmals öffentlich Gehör verschaffte, was zu tumultartigen Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern von Williams in der Provinz führte. Der Fall belastete die Beziehung der beiden Teilstaaten Südninda und Ventadorn schwer. Auf dringende Bitte von Wilberforce Quincey hin, dem Präsidenten von Ventadorn, wurde der Fall vom Kaiser und vom Censor als Präzedenzfall eingestuft und direkt an das föderale Hochgericht von Julverne delegiert. Dort wurde weitere zwei Monate lang verhandelt.
Die zwölf Richter des Hochgerichts legten zu der Sache jetzt ihr Urteil vor: Da die Causa Redlocks zentrale bürgerliche Grundrechte behandle, sei der Gerichtsort gegenüber den verletzten Grundrechten zweitrangig. Bürgerliche Grundrechte gelten in der Konföderation universell und seien daher ebenso universell überall einklagbar. Grundsätzlich sei ein Urteil wie das von Südninda daher unbeschadet der örtlichen Zuständigkeiten rechtskräftig, das besagte Urteil sei im Gesamtverhältnis jedoch viel zu milde ausfallen. Nach Sichtung aller Zeugenaussagen entstehe ein drastisches Bild: Earl Redlock sei als „Vorzeigepirat“ in Williams‘ Schiff wie ein Zootier in einem Verschlag gehalten worden. Das sei völlig intolerabel. Verantwortung für die Tat trügen nicht nur der Schiffsführer, sondern auch dessen ausführende private Seeoffiziere, betonten die Richter. Sie hätten die Straftat jahrelang gedeckt und mitgetragen, dabei sei ihnen die zweifelhafte Rechtsauslegung durch ihren Arbeitgeber durchaus bewusst gewesen. Demgemäß werden Thomas Williams und seine Seeoffiziere nun nicht nur wegen Freiheitsberaubung, sondern auch wegen Ehrverletzung und Rechtsbeugung zu Freiheitsstrafen, Denobilisierung und Sozialdiensten verurteilt. Die Richter legten Williams auch sein Taktieren mit den föderalen Zuständigkeiten negativ aus: Er habe versucht, Varianzen im Rechtssystem für sich auszunutzen und damit dem Ansehen des föderalen Justizsystems in der Öffentlichkeit insgesamt geschadet. Dies sei besonders schwerwiegend bei einem so offensichtlichen Verstoß gegen grundsätzliche Freiheitsrechte und weil Williams eine prominente Persönlichkeit der Zeitgeschichte sei. Daher wird Thomas Williams sein Adelstitel aberkannt, da er nicht weiterhin als Vorbild gelten könne, ungeachtet seiner einstigen Leistungen als Vizekönig. Die Denobilitierung muss durch die Nitramische Volksversammlung noch bestätigt werden.
Von Beobachtern wird der Vorfall als wichtige Richtungsentscheidung gewertet hin zu einer strafferen Rechtsprechung. Auch hat das Urteil politische Folgen: Wieder einmal hat sich die aktuelle Vizekönigin von Südninda, Luisa Amiratu, gegen eine Provinzpersönlichkeit durchgesetzt, die versuchte, sich mit Verweis auf ihre Privilegien den örtlichen Zuständigkeiten zu entziehen. Parallelen zum Sturz des ehemaligen Lordrichters Kyrian von Papyrien sind offensichtlich. Dadurch, dass während des Verfahrens die Seerechte zugunsten der Vereinigten Provinzen von Südninda geklärt wurden, geht die Vizekönigin politisch überaus gestärkt aus der Sache hervor, zumal das Hochgericht ihr Williams Fregatte nun als Entschädigung bis auf Weiteres unterstellte, womit Luisa Amiratu nun rechtlich wie ganz praktisch die uneingeschränkte Seehoheit über die Gewässer von Südninda und Azurea besitzt.
Thomas Williams dagegen kündigte geknickt an, Ninda künftig den Rücken zu kehren und seinen Lebensabend in Tyndalis zu verbringen. Dies wird er nun allerdings erst einmal in einem Gefängnis tun.