Ein nicht ganz besinnlicher Adventssonntag

Aus dem Leben einer Botschafterin, Teil 16

Winterpastell (Grafik: Martin Dühning)
Winterpastell (Grafik: Martin Dühning)

Es war der dritte Tag, nachdem Kaiser Nuriel gestorben war. Überall im gesamten Land, auch in Ventadorn, hingen schwarze Banner mit dem kaiserlichen Stern, der nun gesunken war. Drei Tage Staatstrauer hatte die Generalsekretärin verordnet, fast drei Tage hatten fast alle Bürger ihren großen Verlust öffentlich bedauert, viele hatten offen geweint, teils war es aber auch schon zu Unruhen gekommen, weil Nuriel ohne einen mündigen Erben verstorben war.

Die Zukunft des Landes war völlig offen. Sicher, Nuriel hatte im Sterben noch ein Kind zur Welt gebracht, doch viel zu früh für das Kind und viel zu spät für die Nachwelt. Denn Kinder durften nach damaligem Recht keine Regierungsämter bekleiden. Schwerkrank, wie Nuriel schon gewesen war, hatte die Schwangerschaft dem von Thymotoxis geschwächten Leib den Rest gegeben, jeder ihm nahe Stehende hatte in den letzten Wochen gewusst, dass es so kommen würde. Und doch hatte Nuriels Tod selbst die Legaten überrascht.

Die kaiserlichen Legaten hatten nun auf einen Schlag alle Vollmachten verloren, denn sie leiteten alle Rechtfertigung vom Kaiser ab, und diesen gab es nun nicht mehr. Christopher Albin, der Ex-Legat des Südens, hatte bereits seine Suite in Ventadorn geräumt und war nach Andrasko gefahren, wo er einige Monate im Kloster zubringen wollte, Juniper Stratian, der Ex-Legat des Nordens, war untergetaucht, Gerüchten zufolge, um Valeris, das frühgeborene Kind von Nuriel, in Sicherheit zu bringen. Und auch Jitro Messalinas, der Ex-Legat des Ostens, hätte sich gerne zurück in seine Heimat begeben, allein, es ging nicht. Eine Rebellion im Foriensis Sektor zwang ihn, bei seinen Truppen auszuharren, nunmehr nur noch von des Censors Gnaden, der Messalinas mit seinem Assistenten Cassinor Tirouyel auf eine rechtlich sehr anfechtbare Weise per Notverordnung als Flottenadmiräle der 12. Flotte im Amt halten wollte, bis die Rebellen befriedet wären. Als komissarischer Flottenstratege hatte Messalinas nun aber noch viel weniger Möglichkeiten für einen Erfolg, was ihn selbst nicht unbedingt beruhigte. Überhaupt waren die letzten Jahre katastrophal gelaufen: Zwar hatte er immer wieder überall vermittelnd eingegriffen, viele Schlachten überstanden – das war der eigentliche Grund, warum er nicht schon lange abgesetzt worden war. Aber letztlich stand er doch auf verlorenem Posten und mit dem Tod Kaiser Nuriels war es nun eigentlich auch für ihn gelaufen. Doch wahrscheinlich musste er erst in offener Feldschlacht besiegt werden, bevor ihn die Volksversammlung ebenfalls absägte, wie zuvor schon seinen Kollegen Keto Celladin. Hoffentlich hätte das alles bald ein Ende! Der Andraskaner war so müde!

Messalinas hatte sich deshalb für das Wochenende eine kleine Villa in einem Randviertel von Ventadorn gemietet, ein unzugänglicher Vorort an der Seestraße mit Blick auf die Insel Mondia und die Ufer von Südninda. Die kleine Villa war etwas heruntergekommen, der Garten völlig verwildert und durch die Winterfröste verwüstet, das Anwesen lag aber abgelegen genug, damit er, wie er hoffte, zumindest den dritten Advent etwas in Ruhe zubringen könnte, bevor sich wieder in irgendwelche aussichtslosen Gefechte stürzte. Den Morgen hatte er, begleitet von seinem treuen Leibwächter, tatsächlich unerkannt in einem Vorortgottesdienst zugebracht, den Mittag allein mit etwas Lektüre, Tee und Gebäck und er freute sich gerade auf einen besinnlichen Abend ganz für sich, bevor es am nächsten Tage wieder in die Schlacht ginge.

Dazu allerdings hatte Messalinas sein Quartier jedoch deutlich zu nah an der Residenz der salomenischen Botschafterin aufgeschlagen, deren beleuchtete Fenster am Horizont ruhelos flackerten.

Luisa Amiratu, oder „Luisa Salomena von Leinarkunion“, wie sie sich selbst hier nannte, war bis vor kurzem noch die faktische Besitzerin einer mondänen Freigrafschaft in Tyndalis gewesen, die sie überraschend vom alten Dunkelelbenhäuptling Rufino geerbt hatte. Dass das klappte, war aus ihrer Sicht besonders ein Verdienst von Kaja Nuriel gewesen, die Luisa die Ehrenbürgerwürde verliehen hatte, sodass sie erben konnte. Doch wie alle kaiserlichen Edikte verlor auch dieses mit Nuriels Tod seine Gültigkeit – und neidische Zeitgenossen hatten Luisas Erbschaft bereits noch am Todestag beim Blutgericht in Tyndalis angefochten. Zwar hatte Generalsekretärin Djessa Zeltis der ahnungslosen Luisa noch rechtzeitig geraten, ihre Erbschaft durch Gründung einer gemeinnützigen Stiftung abzusichern, doch das hielt Rufinos eifersüchtige Verwandte nicht davon ab, ihr die Besitztümer streitig zu machen. Zudem traute Luisa auch Djessa Zeltis nicht, da diese als Fürstin aus dem Dunkelelbenhaus der Orla, wie sie von ihrem Verwalter Keto Celladin zwischenzeitlich erfahren hatte, eigentlich auch erbberechtigt war. Außerdem hatte die salomenische Botschafterin, vom Tod Nuriels wie alle schockiert, weiter nachgegrübelt und dabei festgestellt, dass nun ja wohl auch alle anderen kaiserliche Entscheidungen ungültig geworden waren – auch sie selbst und ihre Tochter betreffend. Mit Schrecken erfüllte Luisa der Gedanke, dass sie nun vielleicht gar keine Botschafterin mehr war, da es ja damals ein kaiserlicher Legat gewesen war, der sie als Botschafterin begrüßt und ihr die Villa Mondia überlassen hatte! In Gedanken sah sich Luisa schon als Obdachlose mit ihrer Tochter auf einer winterlichen Straße betteln. Schließlich waren fast alle ihre Beziehungen nun futsch, ihre kaiserlichen Regierungsfreunde entlassen!

Also eilte Luisa in großer Furcht zu der ihr einzig verbliebenen befreundeten „Macht“, Una Niva, die soweit Luisa wusste, noch immer als Kulturministerin im Amt war. Tatsächlich war aber auch Una ganz perplex und aufgelöst, weil sie, wie die meisten Nitramier, noch nie den Tod eines Kaisers erlebt hatte, denn Nuriel hatte zwei Jahrhunderte lang regiert. Kaum einer erinnerte sich noch an die Zeit davor, und was man davon raunen hörte, erfüllte alle mit Schrecken: die Indra-Kriege!

Immerhin erfuhr Luisa von der ungewöhnlich redseligen Una, dass Ex-Legat Messalinas wohl ganz in der Nähe ein altes Häuschen als Rückzugsquartier für das Wochenende gemietet hatte, sodass die beiden Zwergfeen abends kurzerhand beschlossen, den Ex-Legaten aufzusuchen und sich bei ihm Gewissheit über ihrer beider Zukunft zu verschaffen. So zogen die beiden zusammen mit Unas Drachen Tifa und einer Tasche mit Teegebäck los. Sie wollten so tun, als seien sie beim Gassigehen zufällig zum Teetrinken vorbeigekommen.

Wenig später, es war kurz vor Acht, klingelte es an der Türe der Villa Eisblum, Seeweg Nr. 21. Jitro Messalinas hatte die Villa zwar inkognito über seinen Leibwächter gemietet, aber Una wusste es durch ihre Beziehungen natürlich trotzdem besser. Es war draußen und drinnen finster, denn die Elektrik funktionierte in der Villa wohl nur noch zum Teil, auch beheizt werden musste es über den einzigen noch funktionstüchtigen Kamin. Auf einem uralten Sofa, dem drei Füße fehlten, sodass er die Konstruktion mit alten Büchern abstützen musste, las Messalinas dort im Schein einer schiefen Lampe gerade zur Zerstreuung ein andraskanisches Märchenbuch, wollte sich auch nicht dabei stören lassen und ignorierte daher geflissentlich das Klingeln und Trippeln an der Türe. Auch seinen Leibwächter wies er an, unter keinen Umständen zu öffnen. Doch Luisa und Una dachten nicht daran, aufzugeben. Nach einer Viertelstunde Sturmklingeln flogen die beiden mit Tifa kurzerhand zum unzureichend zugehängten Wohnzimmerfenster auf der Gartenseite, wo sie freudig den Ex-Legaten erblickten, vor einem flackernden Kaminfeuer auf einem improvisierten Sofa sitzend!

Also flugs wieder zurück zur Haustür, wo die beiden weiter heftig sturmklingelten! Tifa bließ aufgeregt winzige Flämmchen in die Winternacht. Sie trippelten wie wilde gegen die Haustüre. Da gab der Ex-Legat irgendwann entnervt auf und wies seinen Leibwächter an, nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht waren es ja nur spaßige Siebenschläfer oder Waschbären. Der Leibwächter schritt in den Flur zur alten Haustüre, erblickte durch den trüben Türgucker erst einmal gar nichts, denn es war dunkel draußen und die Feen waren natürlich viel zu klein. Als er die Haustüre vorsichtig öffnete, schneiten sofort zwei Zwergfeen und ein Emolas-Drache herein und wirbelten am Leibwächter vorbei direkt ins Wohnzimmer. Wenn auch Messalinas versuchte, die drei Besucher wieder abzuwimmeln, konnte er doch nicht verhindern, dass sich die beiden Feen bei ihm zum Adventstee einluden. Sie hatten ja auch zufällig Unas selbstgebackenes Teegebäck dabei! Und sie könnten auch zusammen schöne Adventslieder singen! Tifa schnaubte bejahend.

Seufzend gab Jitro Messalinas nach, allerdings gab es durchaus Schlimmeres als den abendlichen Besuch zweier singfreudiger Zwergfeen mit Miniaturdrachen. Attentate zum Beispiel. Inzwischen hatten sich als Folge von Nuriels Tod schon einige ereignet, das erste war ein Bombenanschlag auf Hochkönig Valean Calcessa gewesen, das Oberhaupt der Lichtelben, für viele Nuriels Nachfolgekandidat Nr. 1 – obwohl die Liste der Thronanwärter vom Kronrat eigentlich strikt geheim gehalten wurde. Valean hatte den Anschlag nur durch das beherzte Eingreifen seines begabten Hofmagiers Sirion Janadira überstanden, der ihn seither rund um die Uhr beschützen musste. Die Rache für dieses feige Attentat hatte natürlich nicht lange auf sich warten lassen, einen Tag später fand sich ein seltenes Schlangengift im Mittagessen der Generalsekretärin Djessa Zeltis, einem führenden Mitglied der Dunkelelben. Es konnte sich definitiv „bloß“ um einen Racheakt handeln, weil Djessa Zeltis wohl kaum Chancen auf den Kaiserthron hatte, aber an den Favoriten der Dunkelelben, Herzog Rhaban von Salis, kam man nicht so einfach heran. Der residierte in seiner Stadt Rhabanastris auf dem Wüstenplaneten Beorn, den er, wie alle kaiserlichen Vizekönige, nun nicht mehr verlassen durfte, bis ein neuer Kaiser gewählt wäre, sonst würde er diesen Posten verlieren.

Gleichzeitig flammten anderswo alte ethnische Konflikte zwischen Andraskanern und Perillianern wieder auf, besonders in Andrasko, Panormus probte den Aufstand, und einige moreanische Politiker dachten schon laut darüber nach, die Konföderation zu verlassen. Das hatte in Moreas Hauptstadt Nju Trelanis zu weiteren Anschlägen durch Separatisten geführt. Die tyrillianischen Freistädte dagegen überboten sich darin, insgesamt wenig hilfreich, uferlose Listen mit potentiellen tyrillianischen Kandidaten aufzustellen, meist waren die völlig aussichtlos, aber nun auch eine einfache Zielscheibe für mögliche Mordanschläge durch Neider.

So hatte sich, da war sich Messalinas ziemlich sicher, das Verfassungskonvent die Nachfolge nicht vorgestellt, damals vor 222 Jahren, als die Regeln aufgestellt worden waren, wie ein Kaiser künftig von der Volksversammlung gewählt werden sollte. Das Schwierigste an der Nachfolgeregelung war, dass das Votum der Volksversammlung einstimmig ausfallen musste, und nicht mal die beiden aussichtsreichsten Kandidaten, Valean und Rhaban, hatten eine realistische Chance, auch bloß eine einfache Mehrheit in der ethnisch völlig zersplitterten Volksversammlung zu bekommen. Sollte sich aber die Volksversammlung nicht bald einigen können, drohte wahrscheinlich ein Bürgerkrieg. Das erfüllte alle mit großer Sorge.

Das alles ließ sich Messalinas gegenüber den beiden Zwergfeen nicht anmerken, hoffte er, als er, nach einigen zweistimmigen Liedvorträgen durch die Feen, und nach eher belanglosem Geplauder, Luisas Fragen darüber beantwortete, wie wohl ihre und die Zukunft Nitramiens aussähe.

Ersteres war einfacher: Luisa solle sich keine Sorgen über ihre Zukunft machen. Damals hatte man das Vorgehen mit den Betroffenen Eignern abgesprochen. Die Villa Mondia und die zugehörige Insel sei ihr nicht durch einen kaiserlichen Beschluss, sondern durch die Entscheidung von Ventadorns gewähltem Präsidenten zugesprochen worden, dessen Amt ja nicht zur Debatte stand. Außerdem gehörte die Insel Mondia eigentlich ohnehin Jean Auguste Trecitina, dem Herzog von Albatin, einem rätselhaften Geistwandler, von dem seit gut 300 Jahren niemand mehr etwas gehört oder gesehen habe. Außerdem bliebe ja noch das Schloss Börk, was sich im Königreich Kournia von König Milony befand, der weiterhin fraglos im Amt bleibe. Sie müsse sich daher wohl keine Sorge darum machen, wo sie überwintern würde. Auch bezweifle niemand ihre Kompetenzen als Botschafterin, die Beziehung zu Emolas hätten selbst für die zuletzt kritische Volksversammlung einen hohen Stellenwert.

Schwieriger war es dagegen, die Zukunft der Neu-Nitramischen Konföderation als Ganze abzusehen: Kurzum, Messalinas wusste es selbst nicht, ließ sich aber, so privat bei Tee und Gebäck, mit Luisa und Una auf eine ausführliche Diskussion über die kaiserliche Nachfolge ein:

Was wäre, wenn Hochkönig Valean Calcessa der nächste Kaiser würde? Valean, meinte der Ex-Legat, sei ein Nachkomme des Lichtelbenhochkönigs von Jatan auf dem verlorenen Planeten Jolandin. Sein Urahn, Eleassar Calcessa, war ein guter Freund von Nuriels Vorgänger, Kaiser Tilias Andune gewesen, weshalb er sich dem alten Kaiserreich angeschlossen hatte, Valean unterhielt sehr gute Beziehungen zu Tilias Adoptivkindern, besonders zu Prinz Tim Andune, sodass ihm im Kronrat, der die Nachfolge regelte, die Stimmenmehrheit sicher war, aber auch in der Volksversammlung konnte er wohl auf die Stimmen der Lichtelben, der Evalan-Elben, der Nindaner und einiger Freistätte hoffen. Unter einem Lichtelben als Kaiser, meinte Messalinas, würden die Künste und Wissenschaften aufblühen, aber auch magische Disziplinen, denn Lichtelben liebten die schönen Seiten des Lebens, das Mystische und die Natur. Dagegen traute man Lichtelben eher weniger zu in Sachen Kriegsstrategie oder bei finanzstrategischen Fragen. Auch bei den großen religiösen Instanzen waren Lichtelben umstritten, weil man ihnen zuviel Freigeistigkeit nachsagte. Die sehr demokratischen Tyrillianer und Perillianer konnten mit Valeans elitärem Adelsdenken definitiv nicht viel anfangen.

Deshalb habe auch Herzog Rhaban von Salis gute Chancen. Von ihm wusste man, dass er nicht nur die Künste förderte, sondern auch ein guter Stratege war, außerdem für einen Dunkelelben recht volksnah. Zudem war er in väterlicher Linie Nuriels, einem Dun‘Falas Elbenfürsten, der nächste regierungsfähige Verwandte des verstorbenen Kaisers. Die Stimmen der Dunkelelben, der mit ihnen verbündeten Terillianer, aber auch einiger Tyrillianer und Perillianer waren ihm sicher. Auch war er der heimliche Favorit der „Kleinen Völker“, weil er kleinen Wesen gegenüber als besonders freundlich galt: Für sie hatte er in seinem Herzogtum extra eine kleine Grafschaft eingerichtet, Karas Heimat. Wenn man unbedingt einen Blutsverwandten Nuriels zum Kaiser machen wollte, war Rhaban die erste Wahl. Unter Rhaban, meinte Messalinas, würden allerdings auch die Templerorden und Palladine wieder stark an Macht gewinnen, womöglich würde auch generell der Einfluss kirchlicher Instanzen wachsen, weshalb er nicht auf die Stimme all jener zählen könnte, die Freiheit und Magie liebten.

Außerdem, was kaiserliche Verwandtschaften anging, gab es noch eine bessere Wahl: Die Kinder von Kaiser Tilias selbst, die bei der letzten Kaiserwahl verzichtet hatten. Damals war die Lage Nitramiens allerdings auch ziemlich aussichtslos gewesen, man hatte einen Kriegerfürsten wie Nuriel gebraucht. Vielleicht würden die friedliebenden Prinzen aber diesmal kandidieren? In erster Linie wäre da an Prinz Timotheus Andune zu denken, den ehemaligen Kronprinzen von Kaiser Tilias, aber Prinz Tim hatte ja auch noch viele Geschwister. Sie alle waren Astoreaner, daher schon so alt wie Nitramien selbst, aber da niemand ihre eigentliche Lebenserwartung kannte, sie selbst sahen sich als unsterblich an, kamen sie als Thronerben durchaus noch in Frage. Wenn sich nur einer von ihnen inzwischen als Kandidat bereiterklärt hatte, hätte jeder von ihnen gute Chancen. Zwar traute man ihnen nicht zu, eine Schlacht zu führen, aber es sprach ja eigentlich auch nichts dagegen, Nuriels Regierungsprinzip weiterzuführen, die kaiserlichen Vollmachten an Legaten zu delegieren. Dann hätte man einen echten Dunier als Herrscher, einen Urnitramier, damit allerdings eher einen symbolischen Monarchen. Trotzdem stünde ein solcher Kaiser womöglich auch bei den Altduniern oder bei den Hajoiden höher im Kurs, die den für sie fremden Terillianer Nuriel eher kritisch beäugt hatten. Prinz Tim und seine Geschwister galten ebenfalls als Kunstliebhaber, seien zudem in religiöser Hinsicht moderat, allerdings auch wenig innovativ und unter einem so alten Herrscher drohe Nitramien endgültig eine konservative Erstarrung. Unwahrscheinlich, dass mit ihnen als Kaiser irgendwelche notwendigen Reformen angegangen würden! Denn die alten Dunierprinzen erwarteten nicht mehr viel von dieser Welt, erwarteten das Weltende. Daher würden sie wohl sicher nicht die Stimmen der tyrillianischen Volkstribune erhalten, die sich von einem Kaiser eine wesentlich progressivere und optimistischere Lebenseinstellung wünschten – womöglich wären die Prinzen aber dennoch geeignete Kompromiskandidaten, wenn die Wahlversuche der Volksversammlung mit den anderen Kandidaten nach einigen Wochen immer noch nicht geglückt wären.

Allerdings, gab Jitro Messalinas zu bedenken, halte er es für am wahrscheinlichsten, dass sich die Volksversammlung erst einmal gar nicht auf einen Kandidaten einigen könnte in den vorgeschriebenen 90 Tagen und dass stattdessen dann die Präsidialverfassung in Kraft trete: Ein vom Föderalen Rat alle vier Jahre gewählter Präsident, meinte Messalinas zu Luisa, sei vielleicht im Augenblick ohnehin die beste Wahl, jede Ethnie wäre dann wohl damit zufrieden, dass sie bei den Neuwahlen zum Zuge kommen könnte. Jedoch, seufzte Messalinas, trete die Präsidialverfassung erst nach 90 Tagen in Kraft und bis dahin könne bereits ein Bürgerkrieg ausgebrochen sein, oder noch schlimmer, feindliche Mächte könnten die Thronvakanz bis dahin ausnutzen und eine Invasion starten. So sei das ja schon beim Tod der Altkaiserin von Jestrien der Fall gewesen, als die Brynn auf Nindas Mond Carragia eingefallen waren!

Die beiden Feen schauderten und Una sah den Ex-Legaten ganz blass und ratlos an.

Wie es mit Unas Zukunft aussehe, wusste ihr Messalinas auch nicht zu sagen. Als Kulturministerin sei sie eigentlich in einer relativ sicheren Position, da dieses Amt weniger von politischen Richtungswechseln betroffen wäre. Allerdings würde Unas Chefin, Generelsekretärin Djessa Zeltis, wohl baldmöglichst durch einen anderen Nachfolger ausgetauscht. Ihre gescheiterte Wirtschaftspolitik habe sich auf die Staatskasse desaströs ausgewirkt und Djessa Zeltis sei vor vielen Jahren ohnehin nur durch Gnaden Kaiser Nuriels ins Amt gekommen. Ohne Nuriels Protektion habe sie im Föderalen Rat keine Chance, selbst wenn sie nochmal kandidieren könnte. Derzeit regierte sie nur noch, weil Censor Cyrill sie mit seinen Notstandverordnungen im Amt hielt, um ein öffentliches Chaos zu verhindern. Das nahm man ihr seitens des Föderalen Rates aber übel – es war undemokratisch. Deshalb hätte sie wohl auch bei einer Präsidentenwahl keine Chance, obwohl sie durchaus prominent sei und die meisten Nitramier Personalwechsel in der Politik eher scheuten.

Wer weiß, scherzte Messalinas, vielleicht habe Una ja selbst noch Chancen, Präsidentin zu werden, immerhin habe sie ihre Arbeit als Kulturministerin ja gut gemacht!

Diese Aussicht ließ Una Niva noch blasser werden, sodass sie fast in Ohnmacht gefallen wäre.

Doch dazu blieb ihr keine Zeit mehr. In diesem Augenblick klingelte es nämlich schon wieder an der Haustüre. Es war nun schon nach zehn Uhr abends. Draußen war es stockdunkel und bitterkalt geworden, ein paar Schneeflocken fielen vor dem Wohnzimmerfenster und in der Ferne hörte man Glockengeläut – der Spätgottesdienst ging zur Neige – wieder schellte die Türglocke.

Messalinas und sein Leibwächter sahen sich an. Eigentlich waren sie doch inkognito hier untergekommen, aber die abgelegene Villa schien offensichtlich bei ungeplanten nächtlichen Besuchern ein beliebtes Ausflugsziel zu sein. Beide zögerten zunächst, zur Tür zu gehen, denn natürlich war auch ein bloß komissarischer Flottenstratege zur Zeit von separatistischen Anschlägen bedroht. Die Türglocke schellte wieder und wurde nun noch durch ein heftiges Pochen unterstützt. Luisa und Una blickten Messalinas an, der kleine Drache Tifa schnaubte. Erwartungsvolle Stille, dann wieder die Türklingel und heftiges Pochen. Da rangen sie sich durch. Der Leibwächter entsicherte seine Plasmapistole, schritt zum Gang, zur Außentüre. Dort erkannte er durch den Türgucker jedoch ein bekanntes Gesicht und mehrere föderale Sicherheitskräfte. Also öffnete er die Wohnungstüre, und herein schritt stolz, aber fröstelnd die Generalsekretärin Djessa Zeltis, danach ihre Begleiter. Als sich ihre Augen in der alten Wohnung orientiert hatten, muckierte sie sich deutlich darüber, warum Messalinas denn in einer so abgelegenen und heruntergekommenen Herberge untergekommen war, wo offenbar noch nicht einmal mehr die Türglocke und die Beleuchtung richtig funktioniere. Messalinas allerdings zuckte nur mit den Schultern, es wäre spontan keine andere ruhige Wohnung in Ventadorn frei gewesen. Als die Dunkelelbin die beiden Zwergfeen erblickte, hob sie eine ihrer markanten Augenbrauen und für einen Augenblick huschte ein Grinsen über ihr ansonsten ernstes Gesicht. Es versteifte sich wieder, als sie den Rest der Inneneinrichtung betrachtete.

„Wohlan…“, räusperte sich die Dunkelelbin mit kritischem Blick auf einige Spinnweben in einer besonders gammligen Wohnzimmerecke, wandte sich dann wieder den Zwergfeen und Jitro Messalinas auf dem alten Sofa zu. Sie habe jemanden mitgebracht, bedeutete einigen Leuten aus ihrem Gefolge, vorzutreten und stellte aus ihrer Begleitung einen Lichtelben und zwei Tyrillianer vor, deren weiße Kleidung und bunte Scherpen sie als Mitglieder der Volksversammlung auszeichneten. Der Lichtelbe trug in der Hand ein in Samt verschlungenes Paket, sein Blick traf kurz die beiden Zwergfeen, dann fixierte er den Ex-Legaten und trat direkt vor Messalinas, der sich nun etwas verunsichert vom alten Sofa erhob.

„Jitro Messalinas“, hob er mit sanfter, feierlicher Stimme zu sprechen an und wickelte dabei im Angesicht seiner beiden Mittribune das Paket aus: „Die Versammlung des Nitramischen Volkes hat sich heute, am Sonntag den 11. Dezember 500 a. C., um 9.11 Uhr für einen neuen Kaiser entschieden.“ Er zog den blauen Samt zur Seite. Zum Vorschein kam ein silbernes Diadem mit einem Mitrilsymbol auf der Stirnseite.

Alle waren verblüfft. (Alle, außer der Generalsekretärin und den Volkstribunen.)

„Nehmt Ihr die Wahl zum Kaiser des Nitramischen Volkes an, Jitro Messalinas?“, fragte der Volkstribun eindringlich den Ex-Legaten und streckte ihm das Diadem entgegen.

„Nun ja…“, antwortete der erblasste Andraskaner nach einigem Zögern, durchbrach damit die gespannte Stille, sehr zur Erleichterung der Volkstribune und unter dem begeisterten Applaus der Zwergfeen. Sie setzten ihm das kaiserliche Diadem auf und alle knieten kurzerhand vor Jitro Messalinas nieder.

Und damit war sein weiteres Schicksal besiegelt.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.