„Demokratie setzt Verantwortung voraus“

Jitro Messalinas (Grafik: Martin Dühning)
Jitro Messalinas (Grafik: Martin Dühning)

In einem exklusiven Interview äußert sich Jitro Messalinas, Kaiser des Nitramischen Volkes, zur Rolle von Verantwortung in der Gesellschaft.

Jitro Messalinas ist seit 500 a. C. der dritte Kaiser des Nitramischen Volkes. Durch seinen relativ offenen und transparenten Regierungsstil setzt er sich von seinem Vorgänger, Nuriel Aleksis, ab. Dennoch ist es ungewöhnlich, dass er ein öffentliches Interview gibt. Anastratin.de konnte nun ein solches mit ihm führen.

Anastratin.de: Kaiser Jitro, seit Eurem Amtsantritt vor 28 Jahren habt Ihr eine Reihe von Entscheidungen getroffen, die Euer Vorgänger, Kaiser Nuriel, so sicher nicht gut geheißen hätte. Dazu gehört, dass Ihr mit einigen kaiserlichen Traditionen gebrochen habt und dass Ihr Euch andererseits relativ häufig in die Tagespolitik einmischt. Dass Ihr Euren einstigen politischen Gegner Joel Raskutejn sogar zum Generalsekretär erhoben habt, hat dann Freunde wie Gegner verwirrt.

Jitro Messalinas: (lacht) Nun denn, es heißt ja so schön, „kannst du deine Feinde nicht besiegen, verwirre sie“. Nein, nein, mit Joel Raskutejn hatte ich immer schon ein sehr diskursives Verhältnis, mein Feind ist er aber sicher nicht. Er ist nur sehr offen und ehrlich, das schätze ich allerdings sehr, und nun ja, manchmal ist er etwas barsch im Ton.

Anastratin.de: Raskutejns Außenpolitik, die Ihr offenbar zumindest mittragt, bricht allerdings mit der Tradition der vergangenen hundert Jahre. Alte Bündnisse wurden beendet, teilweise sehr ungewöhnliche Allianzen geknüpft, Ihr mischt Euch ganz offen in andere Konflikte, zum Beispiel im Kibur’Gate-Sektor, ein und die aktuelle Regierung Eures Generalsekretärs befürwortet eine massive Flottenaufrüstung. Zerstört das nicht das diplomatische Gleichgewicht, was Ihr als Legat unter Kaiser Nuriel selbst mitaufgebaut habt?

Jitro Messalinas: Der für Nitramien insgesamt äußerst unerfreuliche Gang der Ereignisse hat leider aufgezeigt, dass wir mit den gehabten Methoden weder unsere moralischen Werte, noch unsere ureigenen Interessen glaubhaft vermitteln können. Unsere Diplomatie wurde als Schwäche ausgelegt, unsere Friedensliebe als Passivität und Emotionslosigkeit. Unter den gegebenen Umständen ist ein etwas „beherzteres“ Vorgehen, jedenfalls aber etwas mehr Nachdruck, angezeigt. Und dass man Bündnisse rearrangiert, wenn die vorhandenen nicht tragen oder zerbrochen sind, ist ein Ratschlag der Klugheit. Mit Starrsinn und Ideologie gewinnt man keine neuen Freunde. Allerdings ebensowenig nur mit Zurückhaltung. Ob sich Raskutejns Politikwechsel auszahlen wird, wird man sehen, allerdings halte ich seine Maßnahmen keineswegs für abwegig oder zu radikal. Es ist vielleicht einfach an der Zeit.

Anastratin.de: Eure Kritiker wenden ein, dass die demokratischen Elemente seit Eurem Amtsantritt, vorsichtig ausgedrückt, mit zu wenig Engagement gefördert werden. Beispielsweise agiert, so behaupten ihre Kritiker, Eure Vizekönigin Luisa Amiratu in Ninda zunehmend autokratisch. Schon bei ihrem Amtsantritt ließ sie die Justiz ersetzen, verklagte sogar ihre Vorgänger und war am Sturz des Präsidenten der Polis von Ventadorn zumindest indirekt mitbeteiligt – dabei nahmt Ihr Luisa Amiratu jedesmal ausführlich in Schutz. Ganz anders ging Euer Vorgänger Nuriel mit seinen Vizekönigen um.

Jitro Messalinas: Da haben Sie sicher recht. Unter Kaiser Nuriel wäre Luisa Amiratu vielleicht längst wegen „antidemokratischer Tendenzen“ abgesetzt worden, so wie seinerzeit Sixtus Priscus von Salis. Aber vielleicht gerade deshalb gab es unter Nuriel in kurzer Zeit 22 Vizekönige allein in Südninda, die sich nur selten durchsetzen konnten und so wurden auch die strukturellen Defizite der Provinzen nicht gelöst. Nun gut, ich habe nicht soviel geeignete Anwärter, als dass ich mir einen solchen Personalverschleiß leisten könnte, bedenken Sie: Ich trage die Verantwortung für sieben Vizekönigreiche, nicht nur eines. Die kaiserlichen Provinzen sind allesamt Problemkinder, sonst könnten sie sich ja selbst verwalten. Und was Luisa Amiratu angeht, ich muss sagen, bei allen ihren Eigenheiten hat sie sich bislang bewährt, und es ist nicht so, dass ich sie nicht schon dann und wann belehrt hätte. Ich sehe allerdings derzeit keinerlei Veranlassung, etwas an ihrem Mandat zu verändern.

Anastratin.de: Dafür habt Ihr in einem beispiellosen Präzedenzfall den halben Stadtrat von Ventadorn vor dem Censor angezeigt wegen der Entscheidung der Ratsmitglieder, den Präsidenten zu stürzen. Ratsmitglieder für ihr Abstimmungsverhalten zu verklagen, zerstört das nicht das Grundprinzip von Demokratie?

Jitro Messalinas: Das sehe ich in diesem Fall leider gänzlich anders. Ich habe nichts gegen demokratische Mehrheitsabstimmungen. Ich habe Anzeige beim Censor erstattet, weil die betroffenen Abgeordneten ein äußerst demagogisches und menschenverachtendes Verhalten an den Tag gelegt haben, als sie mit Hetzreden und einer völlig destruktiven, undurchdachten Abstimmung den Präsidenten kurz vor der ohnehin anstehenden Wahl aus dem Amt gejagt und damit ins Suizid getrieben haben. Da ich in einigen Fällen leider eine gewisse Methodik im Vorgehen konstatieren muss, ich erinnere mich durchaus noch an das Verhalten gegenüber Präsidentin Elandra Drakanou, bin ich nicht mehr länger geneigt, das zu tolerieren. Ich denke schon, dass Gewissensfreiheit ein sehr wichtiger, schützenswerter Bestandteil von Demokratie sein muss, aber Demokratie setzt Verantwortung voraus und die kann ich bei einem solchen Verhalten leider nirgends erkennen. Mir scheint es eher, als ob einige Politiker sich hier mit populistischem Gehabe für die anstehende Wahl profilieren wollten. Es mag auch sein, dass zerstörerische Abstimmungsentscheide derzeit in der restlichen Galaxis Konjunktur haben, allerdings gibt es im Nitramischen Recht schon seit jeher den Grundsatz, Entscheidungsträger für die Folgen ihres Handelns in Regress zu nehmen. Wenn man einen kaiserlichen Vizekönig wegen asozialer und demokratieschädigender Tendenzen anklagt, wieso dann nicht auch Ratsmitglieder, wenn sie sich genauso verhalten?

Anastratin.de: Untergräbt das dann nicht letztlich die Entscheidungsfreiheit aller demokratischen Gremien? Wo bleibt die Freiheit, wenn man künftig fürchten muss, verklagt zu werden? Ist dann nicht selbst die Souveränität der Nitramischen Volksversammlung in Gefahr?

Jitro Messalinas: Ich würde zwischen den ehrenamtlich tätigen Notabeln der Volksversammlung, die über besondere moralische Fragen letztgültig entscheiden und den für ihre Arbeit bezahlten Ratsmitgliedern einer Stadtregierung doch schon noch einen qualitativen Unterschied machen. Der Sturz des Präsidenten war in der vorliegenden Form weder ein Akt von Moral, noch eine kluge politische Maßnahme. Er war in hohem Maße unvernünftig und verantwortungslos und machte letztlich das komplette Regierungssystem vor den Bürgern lächerlich. Von Leuten, die Steuergelder für ihre Arbeit kassieren, kann man, finde ich, auch verlangen, dass ihre Arbeit immer für die Gesellschaft durchgeführt wird – und wo das Verhalten gesellschaftliche Verantwortung in drastischer Form vermissen lässt, sollte das sanktioniert werden. Darüber werde allerdings nicht ich, sondern der Censor und seine Mitarbeiter entscheiden, denn genau das ist ihre verfassungsmäßige Aufgabe. In der Justiz und bei den Beamten war das übrigens schon immer so. Ich sehe das übrigens durchaus als Präzedenzfall an, denn wir brauchen, damit das Staatswesen funktionieren kann, auch ein Ethos der Verantwortung bei der gewählten Exekutive und Legislative. Das ist keine bloße Option, sondern eine Grundvoraussetzung, wenn Sie ein öffentliches Amt bekleiden wollen, auch ein gewähltes als Ratsmitglied.

Anastratin.de: Das hat allerdings auch dazu geführt, dass sich bislang nicht genug Kandidaten für eine Neuwahl des Präsidenten finden ließen. Selbst für den Stadtrat von Ventadorn kandidieren ungewöhnlich wenige Bürgerinnen und Bürger. Es herrscht eine gewisse Verunsicherung und Ratlosigkeit. Ist das nicht letztlich kontraproduktiv?

Jitro Messalinas: Dass sich auf einmal zu wenig Kandidaten finden, halte ich schon für sehr symptomatisch. Kontraproduktiv wäre, das System weiter gegen die Wand fahren zu lassen. So lange sich in Ventadorn nicht genügend verantwortungsbereite Kandidaten melden, wird es eben keine Wahl geben – so lange werde ich dort mit Notstandsvollmacht regieren, also faktisch durch einen von mir ernannten Stellvertreter. Momentan ist das meine Vizekönigin Luisa Amiratu. Und wenn es nötig sein sollte, eine neue Generation von Politikern abzuwarten, dann werde ich das eben tun. Ich bin Andraskaner, mein Volk ist sehr langlebig und ich habe notfalls noch ein paar Jahrhunderte Zeit zu warten (schmunzelt).

Anastratin.de: Also, anders ausgedrückt, Ihr spielt auf Zeit. Provoziert Ihr damit nicht den Zorn der Nitramischen Volksversammlung herauf?

Jitro Messalinas: Zornig werden vielleicht einige wenige, unbelehrbare Leute, ich würde mir aber sehr fruchtbare Wut und Empörung in der Bevölkerung wünschen.

Anastratin.de: Fruchtbare Wut?

Jitro Messalinas: Fruchtbare Wut, ja, oder Empörung. Wut ist ein durchaus nützliches Gefühl, es zeigt an, dass etwas nicht stimmt. Wut kann, wie aufrichtige Empörung, zu Veränderung führen, also durchaus fruchtbar und heilsam sein. Wenn einige Leute, zum Beispiel in Ventadorn, wütend werden, kandidieren sie vielleicht. Zorn dagegen ist nur destruktiv. Zorn entsteht, wenn sich zum Beispiel Missstände nicht beheben lassen oder jemand sie mutwillig nicht beheben will. Das ist hier nun aber nicht der Fall. Ich bin ja durchaus aufgeschlossen für produktive Anregungen – wenn jemand Vorschläge macht, Ventadorn auf anderem Wege aus der Krise zu holen, bin ich dafür durchaus offen. Die derzeitige Verfassung sieht als Lösung aber nur Neuwahlen vor und dafür haben wir momentan nicht die verfassungsmäßig vorgeschriebene Mindestanzahl von Kandidaten. Und einige durchaus geeignete Kanditaten sind zur Wahl nicht zugelassen. Das können Sie ändern, oder eben man muss abwarten.

Anastratin.de: Das könnte man Euch jetzt schon irgendwie als einen Aufruf zur Entdemokratisierung von Ventadorn auslegen.

Jitro Messalinas: Als Kaiser sehe ich mich schon amtshalber weniger als Demokrat, aber sehr wohl als Republikaner. Eine Republik setzt voraus, dass der Staat eine öffentliche, glaubwürdige und wahrhaftige Veranstaltung ist. Es reicht dazu nicht aus, ab und zu zur Wahl zu gehen oder irgendwie Abstimmungen zu tätigen. Der Wille einer Vielzahl ist noch nicht das Gemeinwohl. Das darf sich dann noch nicht Republik nennen, und es wäre dann auch nur eine Fassade von Demokratie, viel eher pluralisierter Egoismus. Wir haben schon zuviel Egoismus in dieser Galaxis, wir brauchen ein verantwortliches Miteinander. Nur so lassen sich gemeinschaftlich echte Herausforderungen bewältigen. Und deshalb gebe ich mich nicht mit einem Schein von Demokratie zufrieden – ich verlange ein verantwortliches Einstehen für das Gemeinwohl, wenn es in Ventadorn nicht als Demokratie gelingt, dann eben anders – aber in jedem Fall als Republik. Für was ich sicher nicht zu haben bin ist eine intransparente Herrschaft irgendwelcher Eliten. Und deshalb teile ich auch einige Ansichten meines Vorgängers nicht, wenn es darum geht, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Nuriel hat unsagbar viele Versuche unternommen, demokratische Verfassungen zu fördern, aber sie haben nur selten funktioniert. Ich möchte allerdings, dass man den Staat in der Gesamtgesellschaft als öffentliche Sache wirklich lebt. Und dafür stehe ich auch gerade, wenn es sein muss.

Anastratin.de: Ein anderes großes Problem ist die schwächelnde Wirtschaft Nitramiens, ein Problem, was auch Joel Raskutejins Regierung bislang nicht lösen konnte, habt Ihr auch hier Lösungsvorschläge?

Jitro Messalinas: Nun, ich bin der Kaiser des Nitramischen Volkes, nicht sein Wirtschaftsminister – und ich bin auch nicht der Föderale Handelsmagistrat. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass wir in der Vergangenheit dessen Grundsätze zu wenig beachtet haben, vor allem das Wertschätzungsprinzip. Etwas deutlicher: Wir sind oft hausieren gegangen und haben dabei allzu oft Perlen vor fremde Säue geworfen und doch recht schöne Produkte an Leute geliefert, die echte Wertschätzung deutlich vermissen ließen. Oft haben wir auf Halde produziert. Damit macht man sich aus meiner Sicht ziemlich zielsicher unglücklich. Mein Rat wäre, etwas mehr Wertschätzung, auch uns selbst gegenüber – statt auf Export sollten wir auf Selbstversorgung umstellen und mehr Kontakt mit genau solchen Handelspartnern aufnehmen, die unsere moralischen und ökologischen Werte deutlich teilen. Wir sollten weniger produzieren, aber das dann bewusst und mit Herzblut. Sonst vergeuden wir Lebenszeit und schöne Ressourcen. Das bedeutet allerdings auch, weniger zu verschenken und für unsere Produkte vielleicht teilweise auch mehr zu verlangen. Wir müssen dabei weder der Schnellste, noch der Beste sein. Wie auch immer, ich bin sehr deutlich für mehr Nachhaltigkeit. Auch das ist eine Frage der Verantwortung – sich selbst und der Welt gegenüber.

Anastratin.de: Euer kaiserliche Majestät, wir danken für das Gespräch.

Das Interview führte Nils Kawomba.

Nils Kawomba
Über Nils Kawomba 191 Artikel
Nils Kawomba, ehemals Chefredakteur der NNZ (Neue Nitramische Zeitung), ist unser nitramischer Korrespondent in Ventadorn (Ninda).