In Nitramien ist es üblich, dass sich kluge Zauberer, oder solche, die sich dafür halten, einen Elfenbeinturm errichten. Einer davon war Vitruvins Turm…
Elfenbeintürme sind hohe, filigrane Monumente, deren Zweck es ist, die Landschaft zu überstrahlen. Als Wohngebäude sind sie recht unpraktisch, man muss viele, viele Treppen erklimmen, ja eigentlich besteht das ganze Gebäude aus nichts als Treppenstufen und die eigentliche Wohnfläche ist eher gering und ziemlich weit oben.
Besonders unpraktisch sind Elfenbeintürme für Personen, die viele Bücher besitzen, denn erst mal muss man die ganzen Bücher die vielen Treppen hochtragen. Und dann gibt es oben im Turm kaum Stellfläche für die Bücher – und Zauberer, Magier oder Alchemisten besitzen meist sehr, sehr viele Bücher! Dass diese Leute dennoch so gerne in Elfenbeintürmen hausen, ist eher eine Sache des Status. Ein Elfenbeinturm verleiht Nimbus; er strahlt quasi – und im wahrsten Sinne des Wortes – aus, dass man über den Dingen steht, den wahren Überblick besitzt und sich nicht von schnöden, erdgebundenen Begierlichkeiten blenden und dass man sich auch nicht von profanen Praktikabilitätserwägungen runterziehen lässt.
Zudem bleibt man von ungebetenen Gästen, wie Hausierern, in luftiger Höhe meist verschont, denn ein Elfenbeinturm ist zwar kaum zu übersehen, aber die wirklich vielen Treppenstufen schrecken ab, es spricht sich schnell herum, dass der Aufstieg meist nicht lohnt, denn der Hausherr eines Elfenbeinturms ist für niedere Konsumfreuden eh nicht zu haben. Und nicht zuletzt kann man mit einem Elfenbeinturm unübersehbar zeigen, was man an alltagspraktischer Magie so drauf hat – denn natürlich steckt ein so filigranes und erhabenes Gebäude voll von Magie oder Alchemie. Es ist zwar ein altes Stück, dass man mit Magie besser keine Bauwerke errichtet (Einsturzgefahr bei Magieverlust), aber das hält natürlich trotzdem keinen davon ab, weiterhin solche Dinger zu errichten. Leider.
Auch Erzmagier Vitruvin besaß einen Elfenbeinturm, Vitruvins Turm genannt, und selbst unter den großen Elfenbeintürmen suchte er seinesgleichen. Denn Vitruvin war nicht nur einer der größten Seher und Illusionsmagier seiner Zeit, sondern auch ein rechter Schelm und sein Elfenbeinturm strahlte ein solches Ausmaß an regenbogenfarbiger Glückseligkeit aus, dass selbst die farbverwöhnten Einhörner des lilabunten Regenbogenlandes in aufrichtige Verzückung geraten wären, wenn sie ihn nur von Ferne schimmern gesehen hätten. Doch dieser Elfenbeinturm stand nicht im Regenbogenland, sondern im sonst beschaulichen Südninda, genauer gesagt an dessen südlichstem Ausläufer, beim Drachenzahngebirge in Nitramisch-Venezianien – und da gab es, so weit wir das heute wissen – keine Einhörner. Nicht mehr.
Aber in Südninda gab es damals eine Zwergfee mit Namen Luisa Amiratu, die Botschafterin von Emolas, und der entgingen die schillernden Regenbogenfarben nicht, wenn sie in sternklaren, mondlosen Nächten vor ihrer Botschafterinnenvilla saß und von einer glücklichen Zukunft für ihr Volk träumte. Dann sah sie zu den seltsamen Lichtern in der Ferne und seufzte. Luisa geriet in glücksbärchenhafte Verzückung, als sie erfuhr, dass es tatsächlich ein leibhaftiger Elfenbeinturm war, und nicht nur eine Fata Morgana oder ein Wetterleuchten. Aus Johtweiher in den Altlanden von Leinarkunion kannte sie solche Gebäude nicht, obwohl die Fürsten von Leonardia gerne solche errichtet hätten, wären sie dieser Art von Magie kundig gewesen. Und bunte, ja geradezu bonbonartige Farben wirken auf Zwergfeen wie eine nächtliche Laterne auf Motten. Also nahm sich Klein-Luisa eines schönen Aprilmorgens vor, den Turm und den darin lebenden Zauberer zu besuchen.
Der Weg war sehr weit, denn ähnlich wie ein Hochgebirge bei Schönwettersicht erschien der Turm wesentlich näher, als er in Wirklichkeit war. Als Luisa, nach vielen Meilen Feenflügelflug die Südspitze des ehemaligen Baronats Araruna erreichte, damals überwuchert von verwilderten Plantagenbäumen, da hatte Klein-Luisa noch nicht einmal die Hälfte des Weges hinter sich und sie hätte hier schon schlapp gemacht und aufgeben müssen, wäre nicht in jenem Moment eine vizekönigliche Galeere vorbeigerudert.
Die Galeere gehörte Valens Anthist Palladorian, dem zweiundzwanzigsten Vizekönig der Vereinigten Provinzen von Südninda. Valens hatte die Angewohnheit, bisweilen zwischen den einzelnen Provinzen herumzureisen und dort nach dem Rechten zu schauen, was vor ihm nur wenige Vizekönige gewagt hatten, doch Valens war Paladin, gut gerüstet und lange und beschwerliche Reisen machten ihm nichts aus. Weil damals so gut wie alle Straßen zerfallen waren und keine Postkutschen mehr existierten (das sollte erst viel später seine Nachfolgerin wieder einführen), ließ er sich meist mit Galeeren durch die Lande rudern, was sehr gut ging, weil die meisten Provinzen über Wasser sogar besser erreichbar waren als über Land. Allein, den älteren Einwohnern gefiel es nicht, da es sie an jene dunklen Zeiten der Vergangenheit erinnerte, als die Söhne Kaiser Georgs mit recht ähnlichen Galeeren und Söldnertruppen brandschatzend über die See fuhren. Doch dies war nun schon fast zweihundert Jahre her und statt des georgizianischen prangte nun das kaiserlich-nitramische Banner am Heck der Schiffe. Das machte alles gleich viel besser, fand Vizekönig Valens – die Einwohner allerdings nicht unbedingt.
Es lässt sich im Nachhinein nicht mehr gut feststellen, wer damals wen zuerst entdeckte, die kleine Zwergfee die Galeere oder die Galeerenbesatzung die emolanische Botschafterin, aber gesichert ist, dass beide hocherfreut über das Zusammentreffen waren, sodass Vizekönig Valens sofort befahl, vor Anker zu gehen und für die Botschafterin am Ufer ein spontanes Festmahl abzuhalten. Gleichwohl hatte man nur begrenzt Proviant dabei und außer Löwenzahn, verwilderten Frühlingskräutern und Gestrüpp wuchs damals in Araruna nicht mehr viel, der Schiffkoch zauberte aber daraus ein frühlingshaftes Fünfgängemenü mit allerlei Frühlingsgemüse und Naschereien. Beim Mahl erzählte Valens der Zwergfee alles Wissenswerte über die Geschichte der einst reichsten Provinz, dass hier ein mächtiger und überaus reicher Baron sein Zepter geschwungen hatte, der durch Anbau von Gewürzen, Kräutern und besonders Cassis ein sagenhaftes Vermögen erwirtschaftet haben soll, das sogar das der Könige von Medea und Westland in den Schatten stellte. Doch lag über all dem Reichtum auch ein dunkler Schatten, denn der Baron von Araruna hatte seine Reichtümer auf den blutigen Schultern von Sklaven erwirtschaftet, sodass er am Ende seiner Ära in Paranoia verfiel und seinen Schatz irgendwo vergrub, bis heute wisse man nicht, wo. Als Klein-Luisa ihn fragte, warum der Vizekönig den Schatz nicht selber suche, lachte der nur. Die vizeköniglichen Schatzkammern enthielten die Schätze von zwölf Königreichen aus drei Jahrhunderten, es sei müßig, sie noch weiter anzufüllen.
Daraufhin erzählte Luisa dem Vizekönig von ihrem Leben in den Altlanden (soweit sie sich noch daran erinnerte) und was der eigentliche Zweck ihres Ausflugs war: nämlich der Elfenbeinturm, der am Horizont immer so schön leuchtete.
Vizekönig Valens musterte kritisch den Horizont und meinte nur trocken, dass er Luisa gerne mitnehmen könne zur Küste am Horizont, die Stadt Tirocastris, wenige Meilen davon entfernt, sei sein nächstes Ziel. Aber er meinte auch, dass der Turm nicht lohne. Sein Besitzer sei wahrscheinlich längst gestorben und der Zauberturm nur mehr ein Trugbild aus einer längst vergangenen Zeit. Seit einem halben Jahrhundert sei niemand mehr dem Zauberer begegnet. Zudem wimmle es im Umland vor grausligen, gramseligen Riesenspinnen – und das wäre freilich nicht der geeignete Ausflugsort für eine Zwergfee und Botschafterin. Wenn Luisa unbedingt Elfenbeintürme sehen wolle, dann solle sie doch nach Tyndalis reisen, in die Elfenlande, wo es noch viele weitere gäbe und zudem schönere, wie den von Merlon Drâs.
Luisa merkte sich Tyndalis für eine große Abenteuerreise vor, die sie vielleicht bald mal machen würde, aber sicher nicht alleine, denn Emolaner wie auch Nitramier hassen es, alleine zu reisen. Hier und jetzt aber, so beschloss sie und gab ihren Willen auch dem Vizekönig kund, wolle sie diesen „kleinen“ Turm besuchen, wo sie denn nun schon die Hälfte der Reise alleine gemacht hätte. (Und sie war sich das schuldig – denn man gibt ja nicht so einfach auf halber Strecke auf!) Also wurde abgemacht, dass der Vizekönig Luisa mitnehmen würde und an der Küste vor dem Turm absetzen, er selbst würde dann nach Tirocastris weiterrudern, um dort leidige Amtshandlungen auszuführen. Auf der Rückfahrt würde er sie gerne aber wieder mitnehmen.
Gegen Abend brach die Galeere auf und der Vizekönig überließ später der Botschafterin großzügig seine Kajüte, er selbst nächtigte mit seinen Soldaten an Deck.
Am frühen Morgen wurde Luisa geweckt, es war der Dienstag der Karwoche im Jahr 489 a. C. nach dem sixtinischen Kalender. Die Galeere hatte am felsigen Ufer vor dem Drachenzahngebirge angelegt. Nach einem kurzen und frühen Frühstück wurde das Organisatorische noch mal abgeklärt. Luisa wurde auch ein Schwert gegen etwaige Spinnenangriffe angeboten, was sie aber freundlich ablehnte mit Hinweis darauf, dass Feen Eisen nicht mögen. Daraufhin überließ ihr Valens seinen vizeköniglichen Stab aus Kastanienholz und Spektrolyth, den sie dann auch annehmen musste, denn Valens wollte die Fee nicht unbewaffnet in die Wildnis ziehen lassen, wenn sie doch schon darauf bestand, allein zu gehen. Und man merkte ihm sichtlich an, dass ihm dabei gar nicht wohl war. Mit einem letzten Hinweis auf Ort und Stunde ihres nächsten Zusammentreffens ließ der Vizekönig die Fee dann in den Wald ziehen – und er sah ihr sehr lange nach. „Emolaner“, dachte er bei sich, „sind schon ein sehr wagemutiges Völkchen“.
Luisa marschierte schnurrstracks im Morgenlicht durch den Kiefern- und Fichtenwald, ignorierte manch seltsame Pilze und auch die Spinnennetze an den Bäumen, immer weiter zu auf das schimmernde Etwas, was sich dann auch als der Elfenbeinturm entpuppte. Im Sichtkreis des Turmes standen keine Bäume mehr, nur Sanddornsträucher und ein paar Holunderbüsche, was Luisa sehr gelegen war. Denn sie mochte Holunder, wie es auch die meisten anderen Feen tun. Aus der Nähe sah der Turm noch viel imposanter aus als von Ferne, tatsächlich verströmte er Schlieren von buntem Licht, die den Turm umrundeten wie Energiebündel oder Seidenbänder, mit denen der Wind spielt. Doch Seidenbänder waren es sicher nicht und es wehte auch kein Lüftchen. Luisa umschritt den Turm einmal, dann ein weiteres Mal, aber sie konnte beim besten Willen keinen Eingang entdecken. Als sie ihn ganz intuitiv noch ein drittes Mal umrundete, tat sich eine Treppe vor ihr auf, aber Luisa kannte sich gut genug mit Feenmagie aus, dass sie nicht darauf hereinfiel, denn sie vermutete ganz richtig, dass der Eingang durch Bannmagie vor unbefugtem Zutritt versperrt war. Der Spektrolyth auf Valens Stab, bei dem es sich offenbar um einen Zauberstab handeln musste, schimmerte und surrte. Also umrundete sie den Turm noch ein weiteres Mal und nocheinmal, insgesamt sieben Male (später konnte sie sich selbst nicht erklären, woher sie gewusst hatte, dass man so Elfenmagie bricht) – und beim siebten Mal zersprang der Spektrolyth an Valens Königsstab, den sie die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte und der Bann war gebrochen: Vor ihr erstrahlte, wie aus dem Nichts, eine grün schillernde, sehr prächtige und filigrane Elbentür an der Turmfassade. Über dem Portal stand in geschwungenen, grazilen Buchstaben irgendetwas in einer elbischen oder nitramischen Schrift, die Luisa zum Glück weder entziffern noch aussprechen konnte – und es war wirklich ein Glück, denn der Spruch war eine Falle, der jeden, der ihn ahnungslos ausplapperte, augenblicklich in Marmor verwandelt hätte. Stattdessen nahm Luisa den geschundenen Stab und pochte damit drei mal, zunehmend lauter, gegen die grüne Pforte. Daraufhin erklang ein leises Klicken und die Tür öffnete sich.
„Klein und nicht so besonders“ hatte Valens den Turm genannt, was diesen aber nicht daran hinderte, unglaublich viele Treppenstufen zu besitzen. Und weil der Hausherr wohl offensichtlich keine fremde Magie in seinem Heim duldete, konnte Luisa auch nicht richtig fliegen und musste die meisten Treppen, mühsam heraufhüpfend oder mit dem Stab als Hilfe, zu Fuß nehmen. Glücklicherweise fanden sich auf den Treppen erst mal keine weiteren magischen Gemeinheiten, wie Alterungssprüche, magische Gebrechlichkeit, allein – so schien es zumindest Luisa – die Stufen schienen kein Ende zu nehmen, ja manchmal war es ihr sogar, als würde die Treppe rotieren.
„Hallo“, rief Luisa immer wieder die Treppenstufen herauf „Hallo, ist jemand zuhause?“. Doch kein Ton erklang, außer ihr eigenes Stöhnen, das irgendwann in missmutiges, emolanisches Schimpfschnaufen überging. Warum musste dieser Depp von Zauberer eigentlich in einem so hohen Turm leben? Wieso gab es hier keinen Aufzug? Und war hier überhaupt jemand zuhause? Haaaallooo?!?! Was für eine völlig bescheuerte Idee, sich ein Haus zu bauen, was nur aus Treppen besteht! Wenn sie doch nur schon oben wäre! – dachte Luisa, und das war ein Glück für sie, denn ebendie Treppenstufe, auf der sie sich gerade befand, war mit einer Wunscherfüllungsrune gesegnet, die netterweise den Wunsch auch so erfüllte, wie er ausgesprochen war, und nicht anders. Augenblicklich befand sich die verdutzte Luisa fast ganz oben am Turm. Nur die letzten 700 Stufen, nun aus schillerndem, irisierendem Glas, muss sie von Hand nehmen – warum auch immer. In Rücksichtnahme darauf, dass hier Wünsche offenbar ohne Vorankündigung erfüllt wurden, verzichtete sie auf weitere Verwünschungen und legte den Rest der Stufen stumm und ohne Hintergedanken zurück.
Ganz oben, am Ende der Treppe, befand sich eine relativ kleine Tür. Das war etwas seltsam, denn die Treppenstufen waren offenbar für deutlich größere Wesen gedacht, aber Luisa Amiratu wunderte auch das nicht mehr, der Bauherr oder die Bauarbeiter hatten entweder einen sehr seltsamen Humor, oder sie standen unter Drogen, als sie das Gebäude errichtet hatten – bestimmt waren es Drogen, wahrscheinlich die Fliegenpilze aus dem Wald, war sich Luisa fast ganz sicher. Dennoch lockte die kleine Tür die Fee sehr, sie wollte mit dem Stab, wie schon beim Portal zuvor, gegen die Pforte pochen, sicherheitshalber rief sie aber erst „Hallo?“, bevor sie anklopfte, und das war auch gut so, denn nun wachte die Tür auf – und sie hatte ein Gesicht, ganz wie in einem Kinderbilderbuch.
„Eindeutig – Fliegenpilze!“, nuschelte Luisa in sich herein.
„Sie wünschen?“, fragte die Tür in einem unnatürlich näselnden Holzton.
„Ich würde gerne, wenn der Hausherr nichts dagegen hat, eintreten“, kündigte Luisa an.
„Hat er etwas dagegen – oder dafür – hat er überhaupt etwas? Es ist schwer zu sagen. Man möchte nicht urteilen…“ – redete die Tür, wie zu sich selbst.
„Ich bin die Botschafterin von Emolas, Luisa Amiratu, ich möchte gerne den Hausherrn besuchen“, setzte die Zwergfee hinzu.
„Eine Botschafterin. Eine Botschafterin. Besuchen will sie, besuchen… besuchen Sie sich auch selbst?“, wollte die Tür wissen.
Luisa Amiratu, der es etwas auf den Nerv ging, sich mit einer Tür zu unterhalten, deren Intellekt etwas morsch oder zumindest doch hölzern war, bejahte dies: „Ja, ich will den Hausherrn besuchen.“
„Wer ist der Hausherr? Wer ist er denn?“, fragte die Tür, vielleicht wollte sie dadurch geistreich erscheinen, vielleicht wusste sie es selber wirklich nicht. Sie war ja, wenn man es genau betrachtet, nur eine einfache, kleine Tür. (Wenn man von dem Gesicht absieht.) Und bei Gesprächen mit einfacheren Gebäudeeinrichtungen sollte man vielleicht auch Kompromisse beim intellektuellen Niveau eingehen, dachte sich Luisa.
„Wohin führst du denn?“, fragte Luisa deshalb sicherheitshalber nach, „führst du mich zum Hausherrn?“
„Wer ist der Hausherr? Wer ist er denn?“, wiederholte sich die Tür.
„Also gut“, dachte sich Luisa, „also dann noch eine Stufe einfacher…“ – zum Glück hatte ihr Vizekönig Valens auf der Überfahrt noch ein wenig über den Zauberer erzählt. Er hieß Tilias Vitruvin der Weise und war ein Erzmagier aus einem Volk Namens Jatan. Er hatte dem Kaiser lange gedient und war für seine Verdienste bei seiner Pensionierung geadelt und mit dem Stück Land versehen worden, auf dem sich sein Turm befand. Und sein Spezialgebiet waren Illusionszauber, aber auch Astralmagie – was immer das sein mochte.
„Ich möchte zu Meister Vitruvin dem Weisen, dem legendären Erzmagier und Illusionisten aus dem Volk der Jatan, dem Hofzauberer des Kaisers, bitte! Ich erbitte hiermit eine Audienz“, erklärte sich die emolanische Botschafterin.
Dies schien der Tür auf die Sprünge zu helfen und sie öffnete sich nun. Hinter der Tür wurde ein großer Raum sichtbar, vielleicht eine Bibliothek, ziemlich eindeutig aber eigentlich viel zu groß, um in den Turm zu passen, zumindest, wenn man die Gesetze der Geometrie und Physik ernst nimmt, was manche Magier aber eben nicht tun. Dieser hier ganz bestimmt nicht!
„So ein Angeber!“, dachte die Fee, und beschritt die irrsinnig riesige Bibliothek, in der Bücher wie Schmetterlinge herumflatterten, wobei manchmal nicht ganz eindeutig zu erkennen war, ob es nicht doch Schmetterlinge waren, oder vielleicht gar riesige Motten. Der Gedanke ließ Luisa erschaudern. Am Ende des Saales erkannte die Zwergfee aber eine fragile Gestalt am Fenster stehen und schritt dann entschlossen auf sie zu, all die anderen Wunder und Unmöglichkeiten des Raumes ignorierend, die er aufbot wie eine Menagerie aus dem Elfenland. Die Gestalt am Fenster unterbrach ihren wehmütigen Blick in die lichten Weiten, draußen vor der Fensterfront flogen Sterne und Sternschnuppen vorbei, ganze Galaxien, und wandte sich dann etwas ausdruckslos der kleinen Botschafterin zu.
Auch die Zwergfee blieb jetzt stehen. Vor ihr stand ein, verdächtig jugendlich aussehender, junger Elbe, gekleidet wie ein Harlekin, zumindest aber doch ungewöhnlich grün-bunt, mit großen, kristallenen Augen und lichtweißem Haar, wie es dem Volk der Jatan zu eigen ist. Seine Stimme klang voll, wie von einer Flöte, als er sich an die Zwergfee wandte: „Seid gegrüßt, kleine Besucherin! Ich bin Meister Vitruvin der Weise, legendärer Erzmagier und Illusionist, Hofzauberer des Kaisers“, und er verbeugte sich mit einem höfischen Schlenker und schüttelte ihr sanft das Händchen.
„Ihr meint, ihr wart früher einmal Hofzauberer des Kaisers. Nun seid ihr doch pensioniert, oder?“, wunderte sich Luisa.
„Wenn Ihr das sagt, dann wird das wohl so sein. Wer bin ich schon, dass ich einem so edlen Gast widersprechen würde?“, gab er galant zurück und lenkte Luisa, die sofort geschmeichelt war, so von ihrer Frage ab. Was für ein wirklich netter und sympathischer Herr, dachte Luisa und erzählte ihrem Gastgeber ausführlich von sich, ihrer Arbeit als Botschafterin und ihrer Mission, neue Freunde für Emolas zu finden.
Der Magier bot der Botschafterin freundlich einen Sitzplatz am Fenster an, hob sie dann auch in den Sessel, hörte ihr aufmerksam zu, stellte manchmal Verständnisfragen und nickte mal verwundert, mal zustimmend. Bei alledem blieb er aber recht stumm und wortkarg, wenn es um seine eigene Person ging, nur auf Nachfrage erzählte er ein paar wenige Anekdoten und Luisa hatte am Schluss des langen Gespräches das unangenehme Gefühl, wesentlich mehr von sich selbst preisgegeben zu haben als der Hausherr von sich.
Schließlich, sie wusste nicht, wieviel Zeit überhaupt vergangen war, fragte sie sich laut, ob es hier vielleicht noch ein Erfrischungsgetränk geben würde oder ob es jetzt Zeit zu gehen sei, nicht dass es schon dunkel würde und sie im Wald alleine stehen müsste – und der Hausherr zauberte wie aus dem Nichts ein Erfrischungsgetränk, das sehr erfrischend schmeckte, aber irgendwie den Durst nicht löschte und deutete dann merklich, aber auch sehr höflich an, dass es nun wahrscheinlich tatsächlich Zeit war, zu gehen, wolle man die Dunkelheit im Wald vermeiden. Alleine allerdings wäre sie nicht, schmunzelte der Magier, denn inzwischen, so deutete er an, hätten sich Gäste eingefunden.
„Doch nicht etwa die Spinnen?“, schreckte Luisa auf.
„Nein, keine Spinnen. Vielleicht sind es Freunde, zumindest tragen sie das Wappen des Kaiserreichs“, lächelte er, enthüllte eine in der Nähe stehende Kristallkugel und hielt sie der Zwergfee hin, durch die Luisa sehr deutlich einige Soldaten des Vizekönigs erkennen konnten. Sie wischten gerade grünen Schleim von ihren Schwertern und blickten sich am Turmrumpf fragend um, fanden aber keinen Eingang.
„Oh ja, das sind meine Freunde!“, freute sich Luisa, „dürfen sie auch hochkommen?“
Doch der Magier schien müde, winkte ab und meinte: „Alles im Leben hat seine eigene Zeit, eine wahre richtige, und eine, wenn es zu spät ist. Wann die richtige Zeit im Leben ist, das herauszufinden vermögen nur die wahrhaft Weisen – und die Narren“, dabei grinste er, hob sie auf seine Hand und reichte ihr den Stab von Valens: „Lebt wohl, Vizekönigin Luisa, und wenn die richtige Zeit einmal kommt, werden wir uns wiedersehen. Oder es war vielleicht schon soweit. Oder auch nicht? Wer will darüber entscheiden?“ – und er hob seinen anderen Arm, in seiner Hand erschien ein magisches Zepter, mit dem er die Zwergfee vermutlich teleportierte, denn schon im nächsten Augenblick befand sich die Botschafterin im Dämmerlicht am Fuße des Elfenbeinturmes, mitten zwischen den verwirrten Soldaten.
„Alle Achtung! Wo kommt Ihr plötzlich her?“, entfuhr es dem verschreckten Fähnrich.
„Aus dem Turm“, gab Luisa zurück, als sie ihre Orientierung wiedergewann. „Ich war beim Zauberer. Aber er ist ein recht seltsamer Kauz – und augenscheinlich auch etwas verwirrt. Aber er lebt noch, offensichtlich.“
„Vitruvin lebt noch?“, fragte der Vizekönig später verwundert, als sich Luisa längst wieder auf der Galeere befand. Auf dem Rückweg war der nächtliche Wald nun voller Spinnen gewesen und Luisa wollte gar nicht daran erinnert werden, dass sie das ohne die Soldaten, die Vizekönig Valens ihr hinterhergeschickt hatte, nicht schadlos überstanden hätte.
Valens konnte es aber ganz augenscheinlich nicht fassen, dass der Magiermeister noch lebte: „Seid Ihr sicher, Botschafterin, dass Ihr dem Magier leibhaftig begegnet seid? War es nicht vielleicht ein Trugbild oder ein Irrwing?“, hakte Vizekönig Valens nach.
„Was ein Irrwing ist, weiß ich nicht“, antwortete Luisa, „aber ein Trugbild war es sicher nicht. Er fühlte sich sehr real an, gab mir auch die Hand, hob mich hoch und zu trinken bekam ich auch. Allerdings ist er sehr knausrig und etwas wirr. Am Schluss hielt er mich sogar für eine Vizekönigin.“
„Na, wenn das mal keine seiner berühmten Prophezeiiungen war!“, lachte Valens und erzählte Luisa dann auf dem Heimweg so manche Legende über den berühmten Vitruvin, der ein Schelm und ein Prophet zugleich gewesen war und seinerzeit der mächtigste Magier nach Kaiser Tilias. „Wenn er wirklich noch lebt“, meinte Valens „dann ist er jetzt schon über 400 Jahre alt! Das schaffen sonst nur Andraskaner, normale Elben leben in dieser Zeit nicht mehr so lange. Aber wer weiß, vielleicht seid Ihr auch nur einem seiner letzten Schelmenstücke aufgesessen, und es war alles eine Illusion. Nun gut, wir werden es sehen.“
„Wie das?“, wollte Luisa wissen.
„Trugbilder sind nur Schatten aus der Vergangenheit, sie sehen weder die Gegenwart, noch die Zukunft. Solltet ihr wirklich den echten Vitruvin getroffen haben, dann, na… warten wir’s ab.“ Und er hielt seinen vizeköniglichen Stab sehr fest, als er zum Abschied Luisa die Hand gab und sie zurück in ihr Leben als Botschafterin entließ.
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