Es gibt kaum einen Tag im Jahr, der mit meiner Grundstimmung der vergangenen Jahre so sehr übereinstimmt wie der Karfreitag.
Die letzten acht Jahre liefen für mich wahrlich nicht erfreulich ab, sie waren gekennzeichnet von sehr vielen Verlusten und gescheiterten Hoffnungen. In meiner Familie ereignete sich schreckliches Leid, viele geliebte Menschen musste ich aus meinem Leben verabschieden und meine größte Stärke, die Gabe, Neues zu erschaffen, erwies sich demgegenüber als völlig nutzlos, sie kam überhaupt nicht zum Tragen. Bis heute wache ich morgens fast immer mit dem Geschmack von Bitterkeit auf, die meine Sinne betäubt, und jedesmal, wenn ich an meine verlorene Freundin denke, geht mir ein Stich durchs Herz – und ich denke recht oft an sie. Dass alte Menschen aus meinem Leben scheiden, damit kann ich mich abfinden. Doch mit dem Zerbrechen unserer Beziehung verlor ich die erhoffte Zukunft, während der Strom von Abschieden weiterhin nicht abreißt. Was ich für 2018 schrieb, gilt leider auch 2019 noch. Währenddessen dreht sich draußen das Rad der Zeit unweigerlich weiter, Leute feiern Feste, tanzen, heiraten und gründen Familien. Es sind für mich die Familien von Fremden.
Und doch: Dieser Tage kann man wieder viel Frühling in der Welt beobachten. Nach einem langen Winter, auch wenn er metereologisch kaum einer war, wachen in den meisten Menschen die Lebensgeister wieder auf. Auch die Blumen blühen wieder, die Flor im Klettgau ist von neuem Grün überzogen und selbst die ältesten Bäume treiben noch einmal junge Knospen. Das ist eigentlich eine Zeit zum Jubeln, für Tanz und Freudenfeste. Und mitten hierein hat man einst den Karfreitag festgelegt, inhaltlich eigentlich ein Novemberfest.
Manche halten den Karfreitag ja für „aus der Zeit gefallen“ – und als zyklisch wiederholtes Jahresfest ist er das wohl auch. Dennoch, auch wenn er den gesellschaftlichen Interessen nicht entspricht, wenn er sich nicht in das konsumistische Wohlfühlland Deutschland fügen will, kommt er so mancher Lebensrealität doch näher als die meisten Werbelügen. Denn nicht alle Menschen dieser Tage haben Grund zum Feiern. Es gibt, auch außerhalb meines Horizontes, viel Grund für Leiden: Unfälle, Krankheiten, Katastrophen und auch viel menschengemachtet Unrecht: Gewalt, Hunger und Ungerechtigkeit. Tatsächlich dürfte, weltweit betrachtet, die Zahl der Leidenden sogar weit höher sein als die elitäre Anzahl der Wohlfühlbürger.
„Es gibt Leid“ ist die Botschaft des Karfreitags. Und dieses Leid auszuhalten gehört zu einem kompletten Leben dazu, selbst wenn es sich um den Sohn Gottes handelt, der sich wohl sicher nichts zu Schulden hat kommen lassen, sodass er dieses Leid irgendwie verdient hätte. Auch Jesu Konnektions zu seinem Vater haben ihm scheinbar nichts genutzt. Die Passion ließ sich offenbar nicht umgehen, „allmächtiger und gütiger Gott“ hin oder her. Bis heute beißen sich am logischen Widerspruch namhafte Theologen die Zähne aus.
Was bleibt, ist das Faktische: Stunden des Schmerzes und der Gottverlassenheit. Und so sehr auch dieses Leid bestimmend ist in den Passionsgeschichten, so bleibt doch unweigerlich selbst in der brutalsten Botschaft, der des Evangelisten Markus, mit Blick auf das Kreuz das abschließende Bekenntnis des Hauptmanns verknüpft: „Dieser Mann war wirklich Gottes Sohn!“ (Mk 15,39)
Es erstaunt etwas, diese Aussage von einem der Folterknechte Jesu zu hören, zudem einem, der sich mit Glauben und Theologie wahrscheinlich überhaupt nicht auskennt. Nüchtern betrachtet haben wir hier vielleicht den ersten echten Christen vor uns, jemand, ein Mensch, der durch die Passion zum Glauben gefunden hat. Das Kreuz, und mit ihm das Leid wird somit fast zur letztgültigen Gotteserfahrung. Das lässt sich eigentlich nicht mehr steigern.
Braucht es da, nachträglich zudem, noch so etwas wie „Auferstehung“? Zu meinen Studienzeiten an der UNI Freiburg war das sehr umstritten. „Auferstehung“ sei eine irreführende Metapher, hieß es da, oder: „Die Theodizée-Frage wird auch durch ein nachträgliches Eingreifen Gottes nicht gelöst!“ – Mit dem Kreuz sei die theologische Botschaft Jesu eigentlich abgeschlossen, die „Auferstehung“ entwerte deren Gültigkeit, sei ein menschengemachter, nachträglicher Zusatz für Kleingläubige.
Brauchen wir so etwas wie „Auferstehung“? Ich denke, für unser reales Leben betrachtet, schon. Die „frohe Botschaft“ richtet sich ja an alle Menschen und ist für ihr praktisches Leben gedacht, nicht für fundamentaltheologische Theorielehrstunden. Höhere Wahrheit ist ein heute vielleicht verkannter Wert, wo doch alle nur auf ihrer persönlichen Sichtweise bestehen, wenn dann allerdings nur noch das Unvermeidliche wahrhaftig bleibt, das Leid und der Tod, dann fehlt es dem Leben doch an lebendiger Wirklichkeit. Der biblische Gott aber ist ein Gott der Lebenden und nicht ein Gott der Toten – und insofern gehört die Auferstehung dann schon noch dazu. Leid allein, und das ist vielleicht der Fehler vieler Glaubensmasochisten, führt noch nicht zum Göttlichen. Allerdings ist Auferstehung nichts, was wir Menschen selbst produzieren könnten, sie ist auch kein Automatismus. Sie kommt von Gott, setzt das Eingreifen der vollkommen anderen Macht, der des Göttlichen voraus und den Glauben daran, dass so etwas überhaupt möglich ist. Und selbst dann muss man darauf drei Tage warten, manchmal sind es auch Wochen, Monate oder Jahre, und wenn man Pech hat, ein ganzes Leben lang. Dies ist die Zeit für Glaube, Liebe und Hoffnung, in adventlicher Erwartung, auch wenn’s schwer fällt.
Vielleicht ist deshalb für mich der Karfreitag ein Tag, mit dem ich sehr viel anfangen kann, während der allzu schillernde Ostersonntag für mich immer weiter in die Sphäre des Jenseits verfliegt. Damit tue ich dem Ostersonntag sicher unrecht, aber immerhin verfalle ich dann auch nicht ins andere extrem, nämlich jeden Tag meines Lebens als eine persönliche Party gestalten zu wollen, was halt meist nicht passt. Ein gelungener Ansatz wäre sicher die Verbindung von beidem. Ich arbeite daran … – aber wie gesagt, Auferstehung ist nichts, was man selbst herbeiführen könnte.