Das Christentum legt nahe, dass Gott nahezu untrennbar mit Gutsein verknüpft ist – das ist nicht falsch, verkürzt allerdings den Blick – und es verführt zur Fehlannahme, als gläubiger Christ müsse man die Welt retten.
Durchaus richtig ist, dass Gotteserfahrung eine Dimension spiritueller Tiefe eröffnen kann (aber nicht in jedem Falle muss), welche den Erfahrenden frei macht für gänzlich neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Dies ist die positive Seite, welche „Weisheit“ ergründet und ein Moralverständnis jenseits von bloßen Regelmechanismen und gesellschaftlichen Konventionen ermöglicht.
Nun sind allerdings nicht schlechthin alle spirituellen Erfahrungen dazu geeignet, es gibt auch Gotteserfahrungen einer dunklen Dimension, Gottes dunkle Seite, welche auch die Bibel in ihrer heutigen, durch die Tradition geläuterten Form noch durchaus als entsprechend ambivalent ausweist. Genannt sei nur die Gotteserfahrung des Jakob am Jabbok – eine Grenzerfahrung, die sich nicht leichthin gutreden lässt. Auch die christlichen Mystiker des Mittelalters kennen durchaus die dunkle Seite spiritueller Erfahrungen. Deshalb ist geistliche Begleitung durchaus nützlich und vielleicht sogar ratsam, allzu egozentrischer Spiritualismus vielleicht sogar gefährlich. (Mystik und Egoismus schließen sich eigentlich aus.)
Doch irrt in jedem Fall, wer Glauben zur Moralkrücke verklärt und Religionen zu Weltverbesserungsinstitutionen reduziert. Die moderne Mystikerin Simone Weil hat Recht, wenn sie schrieb: „Religion, soweit sie eine Quelle des Trostes ist, ist ein Hindernis für den wahren Glauben; und in diesem Sinne ist Atheismus eine Reinigung.“
Wahrer Glaube gründet in Spiritualität, nicht in einem guten Gewissen. Wer den Glauben zum sekundären Akt moralischer Anstrengung verniedlicht, verstellt den Blick auf dessen höhere Dimension. Dann ist fast zwangsläufig ein „Gutmenschentum“ die Folge, dem es, in seinem nur gut gemeinten, aber selten wirklich guten Tun an echter Tiefe mangelt und das in seinem Aktionismus mehr Schaden anrichtet, als wirklich Hilfe zu spenden. Ja, ich gehe noch weiter: Destruktive Phänomene wie Fundamentalismus auf der einen und modische religiöse Egalität sind beide bedenkliche Schwundstufen von Glauben. In beiden Fällen nehmen sich die Menschen zu wichtig und ignorieren letztlich die Dimension des Transzendenten. Eine solche Religion ist dann tatsächlich nur noch ein betüdelndes Opiat für das Volk.
Es geht im Glauben nicht in erster Linie um gute Taten, sondern diese sind allenfalls eine Folge der durch die Gotteserfahrung im positiven Fall gewonnenen spirituellen Tiefe und Freiheit. Im weniger positiven Fall bleibt der Mensch, der die Dimension des Anderen erfahren hat, ratlos oder verunsichert zurück, muss sinnend bleiben. In keinem Fall aber zwingt Spiritualität den Menschen dazu, sich zum Retter der Welt aufzuschwingen. Im Gegenteil: Aktionitis ist der Spiritualität ebenso abträglich wie pseudoliberale Gleichgültigkeit alles und jedem gegenüber. Und deshalb ist regelorientierter Traditionalismus dem Glauben ebenso schädlich, wie ihn sich nach gesellschaftlichen Moden zurecht zu biegen. Beides lenkt von seiner eigentlichen Grundlage ab: Der Erfahrung von Spiritualität – und diese ist auch, worum sich Religion und Kirche vorrangig zu kümmern hat – und eben nicht die Moral. Wenn Spiritualität gedeiht, ist letztere vielleicht eine logische Folge, aber ohne Erfahrbarkeit geht es nicht.
Deshalb bleibt auch die Aussage Karl Rahners aus dem Jahre 1966 weiterhin, ja gerade auch für das 21. Jahrhundert gültig: „Der Fromme der Zukunft wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein.“