Heaven Sent – über Trauer und Tod

Someone You Loved - Leben in Trauer
Someone You Loved - Leben in Trauer

Acht Jahre ist es nun her, seit meine Oma, Sophie Jester, verstarb. Es waren acht traurige und dunkle Jahre. Es waren Jahre der Trauer.

Der Tod in der Gegenwart, 2020

Durch die Corona-Krise ist ein gesellschaftlich sehr verdrängtes Thema wieder in den Vordergrund gerückt: der Tod. Aktuell haben wir in Europa eine Übersterblichkeit von 100.000, hunderttausend Seelen, die in den vergangenen zwei Monaten mehr gestorben sind als sonst – und berücksichtigt man, dass 2019 eigentlich weniger Personen gestorben sind als sonst, dann fällt die Übersterblichkeit noch höher aus.

Was mich betrifft, begann die Zeit des großen Sterbens aber schon 2012, als meine geliebte Oma, Sophie Jester, verstarb. Seither musste ich auch viele andere geliebte Menschen loslassen und keine einzige neue Seele kam hinzu. Wenn man hinzunimmt, dass eigentlich kein neuer Mensch ein vergangenes Leben ersetzen kann, dann ist der Verlust umso heftiger, auch wenn das Sterben, wie manchem Europäer jetzt wieder bewusst wird, zwangsweise, zum menschlichen Leben dazu gehört wie die Geburt.

Grabstein des Ehepaars Otto und Sophie Jester in Oberlauchringen Ende März 2013
Grabstein des Ehepaars Otto und Sophie Jester in Oberlauchringen Ende März 2013

Man könnte versucht sein, mit Alltagsweisheiten, beispielsweise einer billigen Epikurinterpretation, den Tod aus dem Leben auszublenden, da er tatsächlich kein Teil des eigenen Lebens und Erlebens mehr ist und in seiner Unausweichlichkeit sowenig umgehbar – wie es nutzlos ist, sich vor ihm zu fürchten, denn er kommt erst nach dem Leben.

Das trifft allerdings nur insoweit zu, als es das eigene Leben betrifft. Etwas heilloser fällt die Betrachtung aus, wenn es um das Leben geliebter Menschen geht, die wir verlieren – und in diesem Falle können wir dann billigen Epikureismus auch den Hasen geben und sollten besser nach anderen Weisheiten Ausschau halten, die das soziale Element der menschlichen Persönlichkeit etwas besser in den Blick nehmen, Emmanuel Levinas beispielsweise oder christliche Existenzialisten: Mit dem eigenen Tod mag man sich arrangieren können, mit dem geliebter Mitmenschen nicht, solange man ihnen treu bleibt und sie nicht einfach aufgibt, verrät, vergisst.

„Du sollst mich in meinem Sterben nicht alleine lassen.“ – Emmanuel Levinas

Liebe und Treue sind stärker als der Tod: Und das ist vielleicht dann auch eher die Grundlage echt christlicher Auferstehungshoffnung – leibliche Auferstehung meint keine körperliche, sondern eine soziale Auferstehung des Menschen als Person in all ihren Beziehungen – und dazu gehören auch alle Menschen, die man jemals geliebt hat, egal ob sie leben oder tot sind.

Ist das vielleicht zu christlich gedacht, eine solche Treue, die den Tod des Anderen einfach nicht akzeptiert?

Heaven Sent – Allegorie der Trauer

Peter Capaldi als Zwölfter Doktor (Grafik: Martin Dühning)
Peter Capaldi als Zwölfter Doktor (Grafik: Martin Dühning)

Das glaube ich nicht, vielleicht machen es sich viele Menschen heute leicht, indem sie Treue als altmodisch von sich schieben. An christliche Religiosität ist Treue aber nicht gekoppelt, man kann auch als Atheist sehr gut treu sein – und dazu habe ich erst neulich eine sehr interessante Besprechung der Folge „Heaven Sent“ von Doctor Who angesehen. In seiner Youtube-Rezension betrachtet der Podcast von FullFatVideo diese wirklich eindrückliche Episode unter dem Aspekt der Trauer: Doctor Who: How Heaven Sent Explores Grief.

Es handelt sich um eine der eindrücklichsten Episoden der Peter-Capaldi-Ära und Peter Capaldi als Zwölfter Doktor führt darin fast vollständig monologisch durch die Folge, die ein seltsames, surreal kafkaesk anmutendes Schloss beschreibt, ein Gefängnis, das unüberwindlich und zeitlos bleibt und dem man nicht entkommen kann. Oberflächlich betrachtet bedient die Folge das Genre Horror, denn ein unaussprechlicher, gespenstischer Schrecken verfolgt den Protagonisten Schritt auf Schritt – aber mehr und mehr entpuppt sich die gesamte Episode als eine wirklich bemerkenswert gut gemachte Allegorie auf die menschliche Trauer: sie zeigt in immer neuen Bildern, wie sie uns gefangen hält, wie man ihr nicht entkommen kann – wie wir aber trotz ihr oder gerade auch mit ihr einen Teil unserer Menschlichkeit beziehen, wenn wir sie nicht verleugnen, sondern uns ihr stellen, wohlwissend, dass sie auf dieser Welt weder Sinn noch Ziel hat.

Wir erhalten unsere Menschlichkeit nämlich nicht durch Tod und Trauer, der Tod ist ein Faktum, das weder Sinn noch Ordnung kennt und dem wir auch nicht mit selbsterdachten Philosophie-Tricks, Ablenkungen und Überlebensstrategien in Form billiger Sinnzuweisungen begegnen können – und keine Doctor-Who-Folge widmet sich diesem Thema so schonungslos und direkt wie „Heaven Sent“, beweisend, dass weder die Treue zum Verlorenen eine dezidiert religiöse Angelegenheit ist, noch, dass man als moderner Mensch Treue leugnen muss, wie uns das von oberflächlichen Akteuren der Gegenwart manchmal nahegelegt wird.

„Es ist seltsam, der Tag, an dem man jemanden verliert, ist nicht der schlimmste, man ist ja beschäftigt; es sind all die Tage, an denen sie tot bleiben.“ – Der Zwölfte Doktor in „Heaven Sent“ (Deutsch: „Die Angst des Doktors“, Doctor Who, Season 9, Episode 12)

Die Episode zeigt, wie die Trauer ein ständiger Begleiter ist durch ein Leben, dem nun immerdar ein Teil fehlt. Sie zeigt, dass nicht der Verlust selbst schmerzt, sondern all die darauf folgenden „Ewigkeiten“ des Ohne-das-Andere-Leben-Müssens, sie zeigt in metaphorischem Hell und Dunkel die Wirklichkeit, die ein Trauernder durchläuft – ein manchmal schonungslos echtes, teils aber auch bizzar surreales Erleben und – das macht sie geradezu märchenhaft – sie zeigt, wie Trauer die Zeit auf unmenschliche Weise zerdehnt und auch rafft, je nachdem, in welcher Phase der Trauer man sich gerade befindet. Übrigens macht die Trauer keine besseren Menschen, wie gerade der Schluss und die darauf folgende Episode zeigen. „Hell Bend“ ist auch nicht ohne Grund sehr umstritten, denn die Folgeepisode wütet nicht nur im Doctor Who Lore, sondern sie relativiert auch „Heaven Sent“. Aber für sich betrachtet muss ich der Youtube-Rezension zustimmen: „Heaven Sent“ ist ein, vielleicht sogar DAS Meisterstück von Steven Moffat als Show Runner von Doctor Who.

Seit 2018 hat ja Jodie Whittaker in der BBC-Serie übernommen. Ich vermisse Peter Capaldi als Doctor Who sehr, ich vermisse seinen Humanismus, denn es mag zwar sein, dass seine Ära für Fernsehzuschauer zu düster, zu anspruchsvoll gewesen ist, aber sie hatte eine gedankliche Tiefe, die ich bei den neueren Staffeln leider vermisse. Und ja, zur Unterhaltung von Kindern taugt diese Folge sicher nicht, sie ist überhaupt keine Gutenacht-Geschichte! Aber sie verhamlost auch nicht durch Filmtechnik, was das Leben erschwert:

Der Tod ist kein Kinderspiel, auch keine einfache Märchenfigur. Man kann ihn nicht mit Magie oder Science-Fiction austricksen. Immerhin, die fiktionale Figur des Doctor Who ist ein Timelord, ein Herr der Zeit, potentiell unsterblich, er besitzt eine Zeitmaschine und man sollte meinen, das relativiert den Verlust doch sehr. Das tut es nicht! Und wer schon einmal getrauert hat, weiß, dass ein Trauender eine Zeitmaschine nicht braucht, weil er selbst in einer lebt durch die Erinnerung. Das macht die Sache nicht schöner, nur eindringlicher. Und sehr eindringlich wird in dieser Folge auch dargestellt, dass man dem Gefängnis der Trauer nicht wirklich entkommen kann. Nein, Trauer ist, neben der Erinnerung, ein mit fortschreitendem Alter leider immer weniger zu leugnender Grundbestandteil eines jeden menschlichen Lebens und man gewinnt sicher nicht durch Tod und Trauer seelische Tiefe, aber sehr wohl dadurch, wenn man sich dieser dunklen Seite unserer Existenz stellt, statt sich in Alltagsbanalitäten zu flüchten oder billige Jenseitsillusionen. Um das zu begreifen, muss man wirklich kein Christ sein und man muss auch nicht an Gott glauben. Trauer ist ein Bestandteil jeder wirklich menschlichen Person.

Wenn man allerdings glaubt oder sogar bekennender Christ ist, dann sollte man sich unter diesem Aspekt einmal überlegen, was „Auferstehung“ wirklich bedeutet. Es geht eben nicht um eine Verlängerung oder Perfektionierung des eigenen Lebens – und die Metapher „Paradies“ ist in diesem Sinne sogar grob irreführend. Auferstehung ist keine Wiedergeburt und keine Selbsterhebung. Auferstehung ist Teil des „Reiches Gottes“ – Es geht letztlich um Beziehung, und wenn man dieses heutezutage völlig bis zur Unkenntlichkeit zerdehnte Wort benutzen will: Es geht um Liebe – und zwar nicht um die sehr egoistische Liebe zu sich selbst, nein, es geht um die Liebe zum Anderen, zum Du, zum Nächsten, es geht um „Caritas“, um Nächstenliebe – und diese ist größer als Tod und kann auch durch Trauer nicht verringert werden – sie ist die eigentliche Auferstehung.

Dass Beziehung stärker als der Tod ist – auch dazu gibt es übrigens ein sehr schönes Video mit Peter Capaldi – „Someone You Loved“, das Musikvideo zusammen mit seinem Neffen Lewis Capaldi.

Über Martin Dühning 1507 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.