Gemessen an der Größe dieser Welt und der Menge der Kulturen ist es doch erschreckend, wie wenig wirklich gute Filme es gibt. Einer davon ist Gake no Ue no Ponyo, meist einfach Ponyo genannt.
Ich habe mir schon oft Gedanken darüber gemacht, warum es nur so wenige wirklich gute Animes gibt, wo das Genre doch eine riesige Masse ausmacht. Aber einfach generell ist das meiste, was Menschen an Kultur schaffen, eben doch nicht bemerkenswert, eine mittelmäßige Masse. Daran ist nicht das Maßhalten schuld, was all der Schund beweist, der versucht großartig zu sein, indem er Tabus bricht, auch nicht einfach Ideenlosigkeit – obschon es den meisten Menschen spürbar an Fantasie und Sensibilität mangelt – sondern das gute alte Schubladendenken.
Das kann man an der Verarbeitung manchen literarischen Stoffes sehen oder auch an den Rezensionen dazu. Heute, am 21. Mai 2020, wird beispielsweise Pippi Langstrumpf 75 Jahre alt, aber dass man heute die wirklich imposante Figur des rothaarigen Mädchens auf Feminismus bravstriegelt, ist schon geradezu skandalös – sind doch die Werke von Astrid Lindgren alles andere als gelebter Sexismus. Aber auch anderen Stoff hat die Gendrifizierung längst erwischt, gerade auch Märchen und es schmerzt einen immer wieder, auf welch plumpe Weise beispielsweise Disney Christian Andersens wunderschönes Kunstmärchen von der kleinen Seejungfrau kaputtgendrifiziert hat. Und wenn ich besehe, wie grausam meine Generation gerade die Emanzipation zurückdreht für banale und eigentlich sehr bedenkliche Rollenbilder, man betrachte sich nur das völlig chauvinistische aktuelle Kinderspielzeug, dann befällt einen doch Scham und Wehmut. Wie primitiv sind wir doch in unserem Fortschrittswahn geworden!
So gesehen lohnt es sich, einen Blick auf die wenigen Künstler zu werfen, die sich jenseits westlicher Rollenschablonen mit Menschlichkeit und Umwelt beschäftigen. Einer davon ist Hayao Miyazaki, dessen im Studio Ghibli erschienene Zeichentrickfilme nicht umsonst Weltruhm erlangt haben. Es ist natürlich etwas gewagt, Miyazaki mit einer Astrid Lindgren zu vergleichen, zumal Lindgrens Charaktere originär sind, während Miyazaki oft vorhandene Stoffe und Vorlagen umgestaltet – und das in einer typisch japanischen Art und Weise, wie es sicher nicht allen gefällt. Sein Meisterwerk „Das wandelnde Schloss“ beispielsweise beruht auf Werken von Diana Wynne Jones und deren Romane sind durchaus viel filigraner als der Kinderfilm, den Miyazaki scheinbar daraus gemacht hat. Entgegen anderer Zuordnungen handelt es sich bei Jones‘ „Sophie im Schloss des Zauberers“ meiner Meinung nach auch nicht wirklich um ein „Kinderbuch“ , sondern eher um ein Buch für Frauen jenseits der 30, jedenfalls, wenn man es genauer besieht, denn es geht darin eher um Partnerschaftsbeziehungen mit reiferen Männern aus Frauensicht. Miyazaki hat weniger das Buch umgesetzt, als den Stoff umgearbeitet zu einem neuen Werk, das sich an andere Adressaten richtet.
Ebenso hat Miyazaki im Falle von Ponyo das Grundmotiv der Undine aus „Die kleine Meerjungfrau“ umgesetzt für ein Zielpublikum aus kleinen Kindern und deren Eltern und Großeltern. Übernommen wurde dabei vor das Grundgerüst: Ponyo, ein Meermädchen, entdeckt die Menschenwelt, will die Meereswelt verlassen und ein Mensch werden, aber das Menschwerden ist an Bedingungen geknüpft. Der Film erschien im Jahre 2008 und erhielt meist überaus positive Kritiken, während er von seiner Popularität her gegenüber anderen Werken Miyazakis zurücksteht. Der geringere Publikumserfolg wurde oft mit der für Erwachsene gewöhnungsbedürftigen kindlichen Erzählhaltung des Filmes begründet.
Es gibt schon einige Betrachtungen der Figur des Fischmädchens Ponyo, die – im Unterschied zur desaströs banalen Disneyumsetzung von „Die kleine Meerjungfrau“ – eben kein Frauenklischee verherrlicht, sondern das Motiv der menschlichen Selbstverwirklichung aus Sicht von Fünfjährigen. Für Fünfjährige sieht die Welt etwas anders aus – und in dieser Richtung ist wohl auch zu verstehen, warum der Film gerade die Erwachsenen so herrlich überzeichnet, aber auch die sehr psychologische Visualisierung der Umwelt des kleinen Fischmädchens Ponyo und die ihres fünfjährigen Menschenfreundes Sōsuke. Berücksichtigt man das nicht, erscheint der Film, vor allem für erwachsene Betrachter, infantil und bizarr, oft seltsam übertrieben. Aber aus den Augen kleiner Menschen betrachtet ist so die Welt: Ein bunt gezeichnetes Abenteuer, wo die Grenzen von Realität und Zauberwelt oft nicht auszumachen sind und wo sich Erwachsene oft schroff und unverständlich verhalten.
Wo bei Andersen aber Melancholie herrscht, die bei Disney einfach durch Kitsch kompensiert wird, findet sich in Miyazakis Ponyo ein unglaublich machtvoller Optimismus, vertreten durch Ponyos naiven Freiheitswillen, besonders aber auch die übermütterliche Figur der Göttin Granmammare, Ponyos Mutter.
Granmammare, als übermächtige Göttin, wischt viele Probleme im Verlauf des Filmes einfach hinweg. Man könnte das jetzt kritisieren als eine Deus-Ex-Machina-Lösung, also eher ein Plothole, allerdings spielen Mutterfiguren in Ponyo grundsätzlich eine übermächtige Rolle, wie man auch an Sōsukes Mutter Lisa erkennen kann, die aus Sicht ihres Sohnes fast immer machtvoll handelt, während man als außenstehender Erwachsener z. B. ihr Fahrverhalten nur als äußerst gefährdend betrachten kann (so verstößt sie in ihrem rosa Miniauto permanent gegen grundlegende Verkehrsregeln und missachtet bisweilen auch die Grundregeln der Fahrphysik, was aber nicht weiter thematisiert wird).
Dagegen werden die klassischen Männerrollen in Ponyo sehr häufig direkt oder indirekt kritisiert: Ponyo rebelliert offen gegen ihren Vater, den Meerzauberer Fujimoto, der eigentlich erst dadurch zum Antagonisten wird, während Sōsukes Vater die meiste Spielfilmzeit durch angeblich beruflich bedingte Abwesenheit glänzt, also seiner Vaterrolle eigentlich auch nicht wirklich gerecht wird. Ansonsten sind Männerrollen eher blass – beispielsweise der irgendwie neurotisch aktivistisch handelnde Leiter des Altenheimes, aber auch die rein funktionalen Männerrollen im Hafen oder vom Rettungsdienst. Das ist allerdings wohl nicht sexistisch zu deuten, schließlich ist der zweite Hauptcharakter, der fünfjährige Sōsuke, durchaus ein typischer kleiner Junge, also durchaus im männlichen Rollenmuster, wenngleich seine Versuche, in dieser Rolle aufzugehen, noch deutlich infantiler wirken als Ponyos Versuche, ein menschliches Mädchen zu werden.
Das mag daran liegen, dass wir an ein Fischmädchen nicht übergroße Erwartungen an Menschlichkeit setzen (objektiv gemessen an dem, was sie im Film anrichtet, wäre sie aus Erwachsenensicht eigentlich der Hauptbösewicht). Im Unterschied zu Ponyo ist Sōsuke als Charakter aber auch viel weniger originell: Er gewinnt seine Größe eigentlich erst dann, wenn er, aus Mitgefühl und Zuneigung, über sein Rollenklischee eines fünfjährigen japanischen Kindergartenjungens hinauswächst – und diese Schritte sind dann aber vor allem wieder in Frauenfiguren zu verdanken, einerseits seiner überaus empathischen Mutter Lisa, aber auch Granmammare, die scheinbar keinen Augenblick daran zweifelt, dass Sōsuke seiner großen Verantwortung gegenüber Ponyo und damit der ganzen Welt gerecht wird – und das, obwohl objektiv betrachtet Ponyos Vater Fujimoto sehr richtige und begründete Zweifel daran vorträgt, dass ein Fünfjähriger mal schnell die Welt rettet. Fujimoto ist kein klassischer Bösewicht, sondern eigentlich eher ein von der Welt enttäuschter, resignierter Umweltaktivist und Pessimist, der weniger aus Eigennutz, als aus Angst um seine „alternative“ Familie agiert, wie die Filmszenen, die ihn allein zeigen, oft beweisen.
Die eigentliche Botschaft richtet sich aber wohl an Fünfjährige und nicht an von der Menschenwelt enttäuschte und resignierte erwachsene Zauberer. Die Botschaft lautet: Optimismus – Habe Optimismus und den Mut, die Welt in Deinem Sinn zu verändern, selbst dann, wenn Du ganz klein bist – und dieser Optimismus übersteigt Rollenklischees und angeblich vernünftige Gesetzmäßigkeiten der Menschenwelt, die in ihrer Schubladenartigkeit gerade in der Endszene augenschmunzelnd ironisiert wird.
Gleichwohl ist der Schluss von Ponyo kein Happy Ending, sondern bleibt offen. Genau betrachtet stimmt mit dem Märchenschluss auch an mehreren Stellen etwas nicht, denn Sōsuke ist eigentlich nie der Märchenheld, der er sein soll, weil an entscheidenden Stellen immer Ponyo in Aktion tritt (statt sich einfach retten zu lassen) oder andere Mitglieder von Sōsukes oder Ponyos Familien- und Freundeskreis. So betrachtet ironisiert der Film auch klassische Märchenklischees – und das vielleicht noch viel stärker als auch sonst in Miyazakis scheinbar naiven Filmen. Wenn es in Ponyo eine Moral gibt, dann, dass das Leben ein Märchen ist, wenn man eines daraus macht.