Der 11. September 2001 war für mich ein besonderer Tag, damals wurde ich vereidigt – es war der erste Tag des Referendariats.
Für viele Menschen ist der 11. September 2001 ein besonderer Tag, meist allerdings in Bezug auf die Ereignisse in New York. Davon bekam ich erst gegen Abend Genaueres mit – denn an diesem Tag wurde ich damals als Referendar vereidigt. Damit begann ein neuer Lebensabschnitt.
An mein Referendariat denke ich nur sehr ungern zurück, zumindest an das erste Jahr. Damals dauerte das Referendariat in Baden-Württemberg noch zwei Schuljahre, das erste verbrachte ich in Waldkirch, was sich für mich seltsam anfühlte, denn ich hatte während meines Studiums dort gewohnt, musste die Wohnung dann allerdings räumen und nach Denzlingen umziehen – und dann dennoch jeden Tag nach Waldkirch zurück zur Arbeit, eine sehr befremdliche Sache. Die Schule selbst war sehr nett, die Schüler und auch die meisten Lehrkräfte, aber das Referendariat war schon damals wie ein Spießrutenlaufen konzipiert und ständig redeten mir wohlmeinende Leute (oder auch weniger wohlmeinende) in die Gestaltung meines Unterrichts hinein, sodass ich mich ab einem bestimmten Punkt eher wie ein Fremder in meinem eigenen Körper fühlte, der ferngesteuert irgendwelche nicht ganz schlüssigen Befehle ausführte. (Erst in meinem zweiten Jahr, dann in Waldshut, besserte es sich deutlich, als man endlich mir selbst die Regie überließ und mein Leben wieder zu mir zurückkehrte.)
Dazu kam in Denzlingen ein fataler permanenter Schlafentzug. Denn nicht nur dass ich immer früh aufstehen musste und die Tage erst viel zu spät endeten, meine damalige Mietwohnung lag auch über der Wohnung von Punkrock-Liebhabern, die gefühlt jede Nacht Party veranstalteten. Mir fehlte oft schlicht der Schlaf. Wenn man die mangelnde Unterstützung hinzunimmt, die mir mein Leben lang zuteil wurde, frage ich mich manchmal schon, wie ich diese Zeit überhaupt überlebte – aber es geschah. Es muss wohl doch ein Gott im Himmel sein.
Zurück zum 11. September 2001: An diesem Tag wusste ich von alledem noch nichts, was mir die kommenden Monate bringen würden, gleichwohl befremdete mich gleich die erste offizielle Zeremonie, als wir im Seminar, damals noch in der pädagogischen Hochschule, gemeinsam mit Plastiksprudelwasser in billigen Plastikbechern auf unser Referendariat anstießen – so machte man das, um Geld zu sparen – ließ man uns gleich wissen. Erste Meldungen über die Terroranschläge in New York vervollkommneten das Bild, dass irgendwie nicht ganz stimmig war. Man muss hinzunehmen, dass die meisten von uns gerade erfolgreich bejubelt ihr Universitätsstudium vollendet hatten, gleichsam lorbeerbekränzt im Glauben auf die nun anbrechenden Zeiten von Gold und Wohlstand und dass wir mit manchmal einer leicht arroganten Haltung, Akademiker zu sein, durch die Tage wandelten. Die doch recht profane Plastikbecherzeremonie war der Auftakt einer nun folgenden gründlichen Erdung. Denn in den kommenden Monaten wurden wir wie einfältige, ungelernte Praktikanten behandelt und in ein längst überwunden geglaubtes hierarchisches System von Amtstiteln gezwängt, wobei wir als Unterreferendare ganz unten in der Hackordnung waren, gleich über den Schülern.
Wichtiger als die oberlehrerhaften und oft sehr eigentümlichen Seminarerfahrungen scheinen mir heute die authentischen Gespräche mit den älteren Lehrkräften an den Schulen, die immer noch ein humanistisches Menschbild vertraten und gerade auch an stressigen Tagen darauf hinwiesen, dass es nicht die hochgejubelten Lehrprobenstunden sind, die guten Unterricht ausmachen, sondern ein größeres Ganzes. Es machte mir Mut, dass gerade auch ältere Lehrkräfte auf solche Erfahrungen wie selbstverständlich zurückgreifen konnten, in einem System, was sonst pingelig auf Aktionitis und Sparzwänge ausgelegt war. Trotzdem wurden in den darauf folgenden 24 Monaten des Referendariats dann viele Menschen mit Charakter und Rückgrat aussortiert, bisweilen auf eine sehr beschämende und taktlose Weise. Die Auslese war hart und ich kann von Glück sagen, dass man mir in Waldshut deutlich mehr Freiheiten ließ als an den seminarnahen Schulen. Am 11. September 2001 ahnte ich allerdings nicht, dass ich mein Leben in seiner zweiten Hälfte dann wieder am Hochrhein verbringen würde – sowohl Waldshut als auch später Tiengen.
Wenn ich heute, im Jahr 2021, auf diese ferngewordene Zeit zurückblicke, fühle ich Erleichterung und Freude, dass diese Zeit unwiderbringlich vorbei ist, was sonst eher untypisch für mich ist, denn ich habe ein sehr gutes Situationsgedächtnis und die Vergangenheit ist ein integraler Bestandteil meiner Persönlichkeit. Aber nicht alles, was in meinem Leben war, war gut und einiges verbesserte sich mit der Zeit. Das macht gerade auch 2021 Hoffnung in einem Zeitabschnitt, in dem die Corona-Pandemie den beruflichen Alltag oft so sehr diktiert, als hätte es kein Davor gegeben.