Von innerer Armut

Erschütterte Frau (Foto: Shashank Kumawat)
Erschütterte Frau (Foto: Shashank Kumawat)

Armut ist keine Frage des Habens, nicht zuerst. Sie ist eine innere Haltung des Elends.

Vorab möchte ich klarstellen, um individualistischen Fehldeutungen vorzubeugen, dass Armut keine Frage von Schuld ist, denn wer arm ist, ist dies selten aus bewusster Entscheidung heraus, jedenfalls wenn man Armut als einen allgemeinmenschlichen Mangelzustand feststellt. Armut ist auch nicht in erster Linie eine Frage des Vermögens, sondern eine Folge von Ungenügen, von Ungerechtigkeit. Insofern muss man, um Armut zu vermeiden, die Welt als Ganze gerechter gestalten, weshalb so manche mildtätige Gabe, die mitleidig über Arme ausgestreut wird, an ihrem Elend nichts ändert.

Es gibt in Peter S. Beagles berühmtem Roman „Das letzte Einhorn“ das Königreich von König Haggard, das von einer Hexe zu Armut verflucht wurde, weil sich der König geweigert hatte, ihr ihre Dienste angemessen zu entlohnen. Obwohl die Untertanen und der König alles haben an Gütern, bleiben sie letztlich immer armselig und erbärmlich und verspüren Mangel. Das ist ein treffliches Bild dafür, was Armut eigentlich ausmacht: Es bedeutet das Unvermögen, mit der Welt in einem Zustand zu sein, der innere und äußere Zufriedenheit gewährt. Auch heute findet man viele Leute, gerade auch eigentlich „wohl-habende“, in einem solchen Zustand vor, zumal er ja von unseren neokapitalistischen Werten befürwortet wird: Damit die Ökonomie beständig wachsen kann, braucht es güterhungrige Konsumenten – ein Zustand von innerem Gleichgewicht und Zufriedenheit wäre dem Wirtschaftswachstum abträglich.

Allerdings geht echte Armut noch viel weiter: Sie ist ein leidvoller Mangelzustand, der letztlich den höchsten aller Werte angreift: die Würde des Lebens. Das ist frappierend und gleichzeitig folgenschwer: Denn wer in dem verheerenden Zustand der Armut lebt, für den sind Freiheit, Demokratie, aber auch Wahrhaftigkeit zweitrangig – und auch die Gerechtigkeit, insofern sie über Verteilungsgerechtigkeit hinausgeht. Indem sie Gerechtigkeit aber nur als Mittel aus der Armut betrachtet und ihren Mangel nicht als ihre eigentliche Ursache begreift, findet Armut selbst auch keinen Weg aus der Armut. Arm ist man auch deswegen, weil man alleine nicht mehr aus ihrer Falle entkommt, weder ökonomisch noch gedanklich.

Zwei Hindernisse gibt es, weshalb man sich alleine schwerlich aus dem Sumpf der Armut befreien kann: Ersterer ist, dass Armut auch die Folge gesamtgesellschaftlicher Fehlentwicklungen ist, also Teil eines Systems, das Armut quasi automatisch zur Folge hat. Wo es Arme gibt, da gibt es auch noch die andere Seite, die den Mangel erzeugt. Das müssen nicht unbedingt Reiche sein, denn wir haben es nicht mit einem dualistischen System zu tun, sondern mit einem kausalen – und darum würde die Armut auch noch nicht verschwinden, wenn man Reichtum verbietet, eher im Gegenteil: Die Verteilungskämpfe würden dann auf Dauer wieder aufbrechen, da Armut zweitens auch eine innere Haltung ist.

Diese innere Armut ist keine bewusste Entscheidung, über die man urteilen könnte, insofern ist der Arme erst einmal kein Sünder, wenn auch Armut, da sie Werte negiert (siehe oben), oft dazu führt, dass Menschen Schuld auf sich laden, um in ihrer Armut zu überleben. Sie ist allerdings, als Dauerzustand, nicht etwas, das nur von außen auf den Menschen einwirkt, es sei denn in der zivilisatorischen Grundkatastrophe, im Krieg. Nein, Armut bleibt Armut auch deswegen, weil sie eine innere Einstellung ist: Der Arme bleibt arm, weil er durch sein Elend paralysiert ist und somit nicht einmal die Möglichkeiten mehr nutzen kann, die er noch hätte, um seinem Zustand abzuhelfen, zudem er ja aufgrund des systemischen Charakters von Armut auch noch gewaltig gegen die Strömung ankämpfen müsste, um sich aus seinem elendigen Zustand zu befreien. Oft auch besteht keine Einsicht in Zusammenhänge und Verhältnisse, weil man ja mit dem nackten Überleben zu kämpfen hat. Zynisch wäre daher, dem Armen die Armut als intellektuellen Mangel vorzuwerfen. Auch die liberalistische Ansicht, Armut ließe sich allein durch Bildung beheben, greift zu kurz. Denn die Einsicht des Einzelnen befreit noch nicht vom Elend.

Nun ist es aber auch so, dass der Armut nicht immer schon die Lebensumstände vorausgehen, manchmal beginnt die Armut auch aus einer inneren Haltung des Ungenügens heraus, die sich zunächst in Form von Neid verwirklicht, bevor sie dann zu Hass führt und Gewalt, die in der Regel zu einem Niedergang der Gesellschaft führt, der ökonomisches Elend hervorruft. Und diese besonders perfide Art von innerer Armut können auch schon Menschen in sich tragen, die eigentlich der Mittelschicht oder sogar Oberschicht angehören, die aber von innerem Ungenügen zerfressen werden, weil sie in ihrem Leben keine Zufriedenheit erfahren. Diese fehlerhafte Haltung, die in aller Regel zu Ungerechtigkeiten aller Art führt, prangern vor allem auch alttestamentarischen Propheten an, wie Amos oder Jeremia. Sie erkennen den systemischen Charakter von Armut. Und sie benennen auch die Lösung des Armutproblems:

Es gibt nur ein probates Mittel gegen äußere und innere Armut, und das ist Verantwortlichkeit. Armut schwindet, wenn Menschen füreinander Verantwortung übernehmen, statt nur selbstbezüglich ihre Mängel zu verwalten oder Missstände zu ignorieren. Und zur Verantwortung gehört notwendigerweise eine bewusste und wahrhaftige Lebenswahrnehmung, die Missstände auch konkret benennt, statt sich in Worthülsen und ideologischen Anmaßungen zu verlieren. Außerdem braucht Verantwortung Freiheit, dahingehend, wie man seine Lebenskraft und Zeit in Handlungen umsetzt. Wenn eine Gesellschaft diese Freiheit nicht mehr gewährt, oder sie negiert und alles auf einen Satz angeblich notwendiger Regeln reduziert, dann wird die Folge sein, dass immer weniger Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. Dies macht Menschen, die doch soziale Wesen sind, zuerst unzufrieden, dann neidisch, dann gewalttägig und führt als Endstufe, meist über Gewaltexzesse, oft aber auch durch einen Niedergang des gesellschaftlichen Allgemeinwohls, zu innerer und äußerer Armut.

Dieser Weg lässt sich aber auch umkehren, indem man gegenseitige Verantwortlichkeit bestärkt. Natürlich muss man dazu zunächst einmal überlebensnotwendige Grundbedürfnisse wieder befriedigen, aber darüber hinaus muss in der Gesellschaft die gegenseitige Fürsorge unterstützt und gefördert werden und zwar nicht allein durch einen Satz Regeln, sondern durch Bestärkung der inneren Grundhaltungen: Werte. Werte, so pflegte mein einstiger Pädagogikprofesser Werner Tzscheetzsch zu sagen, kann man aber nicht einfach „lehrend“ vermitteln – sie realisieren sich im Handeln. Und deshalb gibt es nur eine Möglichkeit, Arme aus ihrem Zustand herauszuführen: Durch gelebte Vorbilder und indem man mit ihnen eine verantwortliche Gemeinschaft erschafft.

Wie das gehen soll? Das beantwortet Jesu Botschaft vom „Reich Gottes“, das zuallererst für die Armen da ist, sich letztlich aber an alle richtet, weil jeder Mensch irgendwann einmal in seinem Leben mit Armut konfrontiert ist – sei es seine eigene oder die seiner Nächsten.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.