Zum zehnten Todestag von Sophie Jester

Meine Oma Sophie Jester mit Blumen aus unserem Garten (Foto: Martin Dühning)

Am 27. April des Jahres 2012 verstarb Sophie Jester. Seither ging es unserer Familie nicht mehr gut, das Böse vermehrte sich, das Gute schwand.

Ich bin und bleibe ein Feind des Todes und um meine Großmutter Sophie Jester habe ich so hart gekämpft wie selten mehr, denn später schwanden meine Kräfte. Immerhin bis 2012 hielt ich sie mit meinen heilkundlichen Fähigkeiten, mit Gebeten und Zuspruch am Leben, dann allerdings, im April 2012, waren ihre Tage erschöpft und sie starb wenige Wochen vor ihrem 90sten Geburtstag. Damals war auch meine Mutter schon von ihrer Krankheit gezeichnet und unser aller Kräfte waren am Ende. Sophie Jester starb, in großer Erschöpfung und müde von den vielen Jahren, in der Nacht des 26./27. April 2012. Davor hatten wir noch versucht, sie nach einem langen Winter aufzupeppeln und vom neuerlichen Frühling zu begeistern und ich zeigte ihr mit Stolz auch meinen neuen, den dritten Gartenteich, was sie nur lakonisch mit den Worten quittierte: „Der isch dann jetz‘ wohl hoffentlich groß genug!“.

Nun ja, so war sie, meine Oma. Den Humor behielt sie sich eigentlich bis zuletzt. (Im Übrigen hoffe ich, dass ich irgendwann noch mindestens einen vierten Gartenteich angelegen werde, der dann endlich groß genug für Amphibien ist, z. B. für das Katzen und Hunde fressende Gartenkrokodil.)

So sehr meine Mutter, sie war ja damals auch schon krank, damals erleichtert war, dass sie ihre Mutter nun nicht mehr auch pflegen musste, der Verlust von Sophie Jester tat unserer Familie nicht gut. Seither ging es stets bergab. Man kann mir nun wirklich nicht vorwerfen, dass ich in den vergangenen zehn Jahren nicht alles versucht hätte, das Ruder herumzureißen. Aber ich muss wohl offen eingestehen, dass ich damit gescheitert bin. Sophie Jester war das einzige Familienoberhaupt der Königsberger Str. 8, das diesen Namen auch wirklich verdient hatte – solange sie das Zepter schwang, hielt der Haussegen auch in schweren Stürmen und Nöten – seit sie nicht mehr ist, ging es bergab und dreiste Nachbarn nagen seither am Grundbesitz, sei es, wenn im Erbwald immer wieder hübsche Tannen an der Grenze spurlos verschwinden, sei es, wenn mir Nachbarn im Garten ungefragt meine Blumen abschneiden – oder sich gar dreist ihre Garage in meinen Stromkreis hängen (gegen meinen ausdrücklichen Willen übrigens) oder mir mit ihrer Lauchringer Dorfclique bei so manch nächtlicher Sauf-Aktion den Schlaf rauben – neuerdings auch mit Lagerfeuer.

Der Herr hat mir nicht das Gemüt eines Wachhundes gegeben und ich bin auch kein Kriegsheld. Wenn überhaupt, bin ich wohl eher ein Humanist und Schöngeist, mit meinen Vorahnungen manchmal auch Prophet. Aber da mein Name in Lauchringen vielfach geschändet wurde, bin ich wohl nur da geachtet, wo die Leute es nicht wissen, weil ich – mal wieder – ein Pseudonym benutze. „Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und in seinem Hause“, heißt es in Mt 13,57, und da ist viel Wahres dran. Vielleicht hätte ich den Staub von meinen Sandalen seinerzeit abwischen sollen und den Ort dem Urteil der Gottheit anheim stellen, so wie ich das mit meinem alten Arbeitsplatz tat. Aber es ist doch auch ein wenig feige, einfach das Weite zu suchen und das Böse gewinnen zu lassen. So wird die Welt ja auch nicht besser.

Ich muss sagen, in den vergangenen Jahre wuchs meine Hochachtung vor meiner Großmutter Sophie Jester, die auch ohne akademische Titel und als Zugezogene in der schwierigen Nachkriegszeit mit großem Mut und Kraft sich hier ihr Zuhause aufbaute und sich bei den „alteingesessenen“ Lauchringern Gehör verschaffte. Ihr Mann, Otto Jester, war als Nachkomme der Familien Herzog und Mattis quasi Mitglied des Oberlauchringer Altadels, aber Sophie, eine Huber aus dem Hotzenwald, musste sich, so wie das noch heute in Provinzdörfern üblich ist, erst eine Reputation verschaffen. Freilich frage ich mich manchmal doch ernstlich, ob diverse Haushaltshilfen und Dienste, die sie in Oberlauchringen erbrachte, die ganze Lebenszeit wirklich wert gewesen sind, man hätte sie vielleicht anders besser nutzen können, wenn nicht für das eigene Glück so doch wenigstens für das Reich Gottes, statt sich so sehnlich um die schnöde Anerkennung zu bemühen bei ein paar einfältigen Dörflern, die alle auch schon längst verflossen und vergessen sind. Die Welt wurde dadurch auch nicht besser. Aber es war ihr Leben und es war ihr wichtig, ihrer Familie, der Familie Jester, einen Namen zu verschaffen und ein Zuhause für ihre Töchter und Enkel. Meine ganze Kindheit lang nannte man mich deshalb nur „Der Jeschter Ursl ihre Bue“, was nicht nur meinen Vater, sondern auch mich durchaus bisweilen ärgerte, weil ich so nicht heiße und diese Definition meine Emergenz auch nicht wirklich trifft.

Aber vielleicht deswegen endete mit jenem 27. April auch meine Geschichte mit dem Ort Oberlauchringen, weil alles danach eigentlich eher ein Alptraum war, den ich unfreilich miterlebte, aber nicht wirklich handelnder Akteur war. Der inzwischen leidlich zubetonierte Ort ist mir fremd geworden in den letzten Jahren und was ich 2018 schrieb, das gilt so auch noch heute. Und wie gesagt, bemüht habe ich mich um vieles, und oft auch erfolgreich: Seit zehn Jahren bestelle ich einen wilde wuchernden Garten, der mein Herz erfreut und alle diejenigen, die meine mannigfaltigen Blumenfotos mögen, meinen stille wuchernden Traumgarten, den meine lärmig-lauten Strebergartennachbarn allerdings verachten.

Ich habe auch meinen Arbeitsplatz, die Schule von damals, gegen eine viel bessere getauscht und versucht, eine neue Familie zu gründen, was mir allerdings nicht gelungen ist. Was mir hier fehlte, war ein Gegenpart mit Courage, Geist und Herz. Aber daran fehlt es schon immer in meinem Leben, und so allein kann ich mit meiner Kreativität und Wissen auch nicht alles ersetzen. Es ist schon ein bisschen schade, dass alles, was ich mir in meine Löffel-Liste geschrieben hatte, mangels Zwischenmenschlichkeit hier so jämmerlich versandet ist.

Aber letztlich liegt es nicht an uns, welches Wetter wir haben, und im ungünstigsten Fall enden wir halt als Mandelbäumchen in Grönland. Sophie Jester tat das nicht, sie hat in schweren Zeiten und trotz vieler Anfeindungen Großes geleistet – sie hat darum gekämpft, mit viel Mut und Herz, fast bis zuletzt. Und dafür werde ich sie nie vergessen, wenngleich ich sie auch nicht dafür beneide, denn dafür war auch in ihrem Leben zuviel Leid.

Aber wie ich gerne altklug zu sagen pflege: Es kommt nicht so sehr darauf an, was einem im Leben geschieht, sondern wie man damit umgeht. Darin zeigt sich nämlich Charakter, Integrität und moralische Stärke – und die hatte Sophie Jester.

Ruhe in Frieden, Du hast es Dir verdient!

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.