Es war einmal am Martinstage, nachmittags um drei Uhr, da tagte ein Deutschleistungskurs in Waldshut…
Es war einmal am Martinstage, nachmittags um drei Uhr, da tagte ein Deutschleistungskurs in Waldshut. Ein trostlos traurig trüber Herbsttag war es, triste Nebel schlichen am Aarberg, verschlangen die einst lichte Welt und die Waldstatt ergraute ganz. Tiefdunkelschwere Wolken überdeckten wie schmutzige Lumpen die schwindsüchtige, treulose Novembersonne, fade Schwaden waberten über den Hochrhein. Drinnen, in einer renommierten Lehranstalt, im Raum 1.02, bestaunte Oberstudienrat D. seinen einst so hochbegabten Kurs: Die anfängliche Begeisterung war über die Wochen und Monate längst dem Grauen über deutsche Lektüren gewichen und Klausuren, die beständig drohten wie Gewitter im Mai. Und nun war es schon so spät am Tage und im Jahr und einige der angehenden Abiturienten hielten sich nur noch mühsam durch stündliche Koffein-Eingaben wach. Entsetzlich, wie schnell das ging: Schüler kamen, verbrauchten sich und vergingen. Die Hälfte von D.s Lebens als Lehrer war so dahin, zerflossen an solch tristen Novembertagen in denkmüden Kursen, oder in den endlosen Nächten von Klausurkorrekturen. Und dabei gäbe es doch soviel mehr als nur das in der Welt der unsterblichen Poesie! Wo war nur die Goldene Spur? Ach, die banale Welt um ihn herum schien so desinteressiert und so verbraucht! Noch auf dem Heimweg von der Schule, eine halbe Stunde darauf, eine frühwinterliche Finsternis beschlich schon die Gemüter der Waldshuter Passanten, grübelte D. über seines und der Menschheit Schicksal nach…
… als er geradezu urplötzlich in eine Frau hineinrannte, die, gleichsam wie aus dem Nichts, auf der Markstraße aufgetaucht war. Zu D.s größter Überraschung purzelten aber nicht Äpfel und Kuchen durcheinander, nichts wurde hinausgeschleudert und auch kein hässliches altes Äpfelweib prustete D. wüste Beschimpfungen entgegen. Stattdessen erhob eine galante Dame ihre Stimme, keineswegs zeternd oder krächzend, sondern sanft, höflich und doch irgendwie listig, erwiderte die Dame dem verdatterten Oberstudienrat: „Wie schön, Ihnen nun endlich so zu begegnen! Ich bin gekommen, um Sie zu erlösen!“ Und sie warf D., verborgen hinter ihrer Corona-Maske, ein fast mephistotelisches Lächeln entgegen, während D., immer noch verunsichert, nach potentiell herumpurzelnden Äpfeln Ausschau hielt. Daher fügte sie hinzu: „Oh nein, keine Äpfel – Apps! Die Zukunft sind Apps!“ – und sie zeigte dem verwirrten Oberstudienrat eine Auslage mit bunt flackernden Tablets und Smartphones, auf denen goldene Knöpfe prangten, die an Schlangenköpfe erinnerten, vielleicht waren es aber auch goldene Äpfel.
D. hatte bereits von diesen neumodischen und überaus verdächtigen Apparaturen gehört, die wie durch Alchemie oder sonstige dunkle Künste die Lösung vielfacher Probleme propagierten: lästige, summende oder klirrende Geräte, welche man den Schülern in der Schule ständig abnehmen musste, weil sie, obwohl es doch verboten war, unaufhörlich – und blind für alle Vernunft – damit zombiegleich durch die Flure und Gänge des Gymnasiums stolperten. Daher hatte D. tatsächlich auch schon oft solche Geräte selbst in der Hand gehalten, wenn er sie dann nämlich ordnungsgemäß einkassiert und ins Sekretariat gebracht hatte. Allerdings war es D. völlig schleierhaft, wie diese Apparaturen seine oder überhaupt irgendwelche Probleme lösen können sollten, da sie ja in der Regel nur welche verursachten.
„Mein lieber Herr D.“, säuselte die junge Dame in schlängelnden Worten, „die Antwort liegt nicht in der Hardware, sondern in den Apps. Ich bin Hermine Rauerin von German Poetics & Technologies und wir haben genau für Sie DIE App, die neueste APP, die EINE App, mit der Sie wirklich aus jeder Schüler*in eine geniale Klausur herausholen: P.A.B.L.O. – das heißt „Phantastic Auto-Bloosh Literature Organizer“. Alles, was Sie tun müssen, ist unsere App auf Ihrem und den Geräten Ihrer Schüler*innen zu installieren. Und nein, natürlich kostet es Sie nichts, wirklich nichts, nur ein ganz klein bisschen Ihrer Lebenszeit“, erklärte die adrette Dame schmunzelnd und demonstrierte es auf einem dieser neumodischen Geräte.
D. wusste natürlich weder, was „harte Ware“ sein sollte, noch was Apps denn nun anderes als amerikanische Äpfel wären. Jedoch hatte er durchaus vor Jahren einmal in einem weisen Roman etwas über graue Wesen gelesen, die Lebenszeit stahlen – und daher war er natürlich vorgewarnt und wäre nicht einmal nur minimal in Versuchung geraten, sein oder seiner Schülerinnen und Schüler Leben in die Hände einer magischen Apparatur zu geben – jedenfalls wäre es so gewesen, hätte sich jetzt nicht ebenda von der anderen Seite ein älterer Herr in das Gespräch eingemischt:
„Verzeihen Sie, lieber hochehrenwerter Herr D., aber ich muss Sie warnen! Gestatten, mein Name ist Lindhorst, ich bin Archivarius und ja – ich kenne diese Person. Trauen Sie der Dame nicht! Vor vielen Jahren, in Dresden, hat sie schon einmal versucht, Unheil und Verwirrung zu stiften und Menschen von ihrer wahren Bestimmung abzuhalten. Aber ich glaube und hoffe doch sehr, Sie, lieber Herr D., Sie wissen, dass man die befreiende Kraft der Poesie nie und nimmer mit billigem Zauberwerk verdunkeln darf. Denn was kann man mit solch magischer Trickserei schon erreichen? Wären Sie wirklich willens, Ihrer Freiheit Schaffenskraft zu ersetzen mit einem Automaten, der für Sie nach starren Vorgaben die wundervollen Texte Ihrer Schüler korrigiert, formalisiert, normalisiert, indem er Menschen in Zahlen und Statistiken umrechnet? Der dies völlig automatisch täte, ohne dass Sie Ihre einzigartige Seelenkraft dafür einbringen? Oder würde es Ihnen reichen, wenn Ihre Schüler die goldene Literatur einfach nur auf eine Reihe auswendig gelernter Formeln und Schaubilder reduzieren, wenn sie nur Kompetenzen beherrschen und nicht die höhere Ebene des Geistes erreichen? Wollen Sie Menschen bilden, die nur regeltreu Klausuren texten, lernen, nur um gute ABI-Schnitte zu erzielen? Ist das wirklich das, was man von Ihnen als Lehrer, als Gestalter der Zukunft erwartet: Lerninhalte, gute Noten und gute ABI-Ergebnisse? Oder ist es…“
„Nun ja“, unterbrach ihn da D., der keine Zeit mehr hatte, weil er auf den Zug musste und nicht warten wollte, weil es seit Monaten nur einen Notfallfahrplan am Hochrhein gab, „eigentlich ist das doch genau das, was man von mir erwartet. Sie haben schon recht, ich sollte diesen Apfel vielleicht mal probieren…“ „Kein Apfel, eine App“, korrigierte ihn Frau Rauerin. „Aber Herr D.“, wandte sich Lindhorst nochmals, verzweifelt, an den Oberstudienrat: „Wenn nicht Sie, wer dann? Sie sind auserwählt! Sie müssen…“
„Ich muss gar nichts“, wies ihn D. barsch zurück. „Lessing sagt: Man muss nicht müssen. Und wenn überhaupt, muss ich zum Zug!“ Denn D. hatte sich inzwischen den alten Mann etwas genauer angeschaut und festgestellt, dass er einen sehr ungepflegten Haarschnitt und seltsam altmodische Kleider trug, die zudem sehr heruntergekommen waren. Und er hätte ihn sicherlich für einen Obdachlosen gehalten, wenn Lindhorst nicht einen ziemlich kostbar aussehenden Ring am Finger getragen hätte. Aber dennoch erschien der alte Mann D. obskur. „Die Dame hat ein Angebot gemacht, das sehr verlockend klingt“, gab D. listig zu bedenken: „Was hätten denn Sie im Gegenzug anzubieten?“ – und D. erwartete nicht, dass der seltsame alte Mann ihm darauf etwas antworten würde – was er aber in erstaunlicher Weise dennoch tat:
„Ich kann Ihnen meine zweitjüngste Tochter anbieten, Herr D.! Und ich kann Ihnen Visionen verschaffen, die sonst jedem verborgen bleiben!“, sprach Lindhorst herzerfüllt und hielt D. stolz eine Pfeife und eine Flasche mit der Aufschrift „Arrak“ entgegen – „Alkohol, Drogen und Kinderprostitution! Das ist ja einfach nur WIDERLICH!“, entfuhr es D. entsetzt. Und er stieß den alten Mann von sich, kaufte der Dame sofort ein Smartphone ab und installierte sich und seinen Schülern bei nächster Gelegenheit die App P.A.B.L.O., die, ganz wie von Frau Rauerin versprochen, tatsächlich zu einem statistisch relevant verbesserten Notenschnitt der Schüler führte. Da D. nun auch nicht mehr soviel zu korrigieren hatte, denn das übernahm die App, hatte er endlich mehr Zeit, mit dem Smartphone in seinem Garten die Blumen zu fotografieren oder abzumalen und sich in aller Ruhe die Radiomusik des Lebens anzuhören, ja sogar und ab und zu auf Tanzbälle zu gehen, so wie es ihm seine Freunde Hesse, Goethe und Mozart schon vor langer Zeit angeraten hatten.
Seine Schülerinnen und Schüler allerdings bekamen von all diesen kleinen Freuden nicht sehr viel mit, denn sie verbrachten den Rest ihrer Tage mit der App P.A.B.L.O und allerlei anderen, die ihnen so ziemlich alle Lebensaufgaben und auch das kritische oder kreative Denken abnahmen und sie stattdessen mit genau den Inhalten fütterten, die ihnen die Rauerin und ihr alter Freund, Mephisto, vorsetzten. Und ja, auf ihre Weise machte auch sie das glücklich, wenn auch manches dabei verloren war und blieb. Und so lebten sie glücklich, zufrieden – ganz ohne Kant oder Novalis – bis an ihr Ende.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute…
Verfasst für den Deutschleistungskurs 2020/2022. Zuerst veröffentlicht in der ABI-Zeitung 2022 am Hochrhein-Gymnasium …