Es war in der dritten Woche ihres Kuraufenthaltes in Eldalonde auf Tyndalis, als Luisa Amiratu zum ersten Mal dem Grafen begegnete. Er war damals schon recht alt und Luisa nahm ihn zuerst nicht zur Kenntnis, als sie einfach so durch seinen Schlosspark trottete, direkt auf ihn zu.
Von der verhassten Raumstation hatte man die kranke Grünfee zuvor ins frühherbstlich vergoldete Eldalonde gebracht in den lichterfüllten Elbenlanden beim Volk der Evalan, wo man hoffte, dass sie sich endlich erholen würde. Immerhin war dieser wunderschöne Kurort Teil von Luisas und Karas legendärer, großer Abenteuerreise gewesen, von der die emolanische Botschafterin noch Jahre danach immer wieder gern berichtete. Doch Luisa Amiratu blieb auch in der Kurklinik weiterhin eine schwierige Patientin, die viel lieber wieder schnellstmöglich zurück in ihre Villa auf der Insel Mondia gewollt hätte. Daher hielt sie nichts in ihrem Krankenzimmer – und wenn sie schon nicht das Grün von Südninda sehen konnte, dann wollte sie wenigstens in den herbstlichen Elbenpark und dort möglichst weit weg von ihren „Gefängniswärtern“. Es dauerte allerdings drei geschlagene Wochen, bis sie dazu wieder kräftig genug war.
Es schmerzte Luisa sehr, dass sie noch nicht fliegen konnte, sondern an einem Stöckchen humpeln musste, denn ihre Zauberkräfte waren noch nicht zurückgekehrt und sie hatte sich bei ihrem Ausflug im Park den Fuß verknickst. Normalerweise passierte ihr so etwas nicht, aber normalerweise konnte sie auch fliegen und daher nicht stolpern. Nun war sie quer über eine olle Baumwurzel genudelt, als sie nicht auf den Weg geachtet hatte. Und auf dem Rückweg hatte sie sich auch noch verlaufen.
Luisa ging davon aus, dass man sie schon finden würde, bislang stand sie ja immer unter Beobachtung, und man hatte sie immer gesucht und gefunden; doch noch am Vortag, bei ihrer Abreise, hatte ihre Freundin Una Niva für sie bei der Kurverwaltung ein gutes Wort eingelegt, sodass man Luisas ständige Begleiter zurückgepfiffen hatte. Und jetzt, wo Luisa die Krankenpfleger mal wirklich gebraucht hätte, da war keiner da.
Dummerweise, was Luisa nicht ganz klar war, hatte sie den Kurpark über einen selten genutzten Pfad im hinteren Viertel längst verlassen, war über eine alte Brücke hinüber in eine andere Parkanlage gewandelt und befand sich nun mitten im alten Schlosspark, wohin sich nur selten Kurgäste verirrten. Denn der Schlossherr sah Gäste nicht so gerne in seinen Gärten. Und er galt als sehr speziell, ein bisschen gefährlich und für viele war er eine äußerst gruselige Person.
Als sie quasi direkt zu seinen Füßen angekommen war, bemerkte Luisa den hageren alten Mann, der sie von der Parkbank herab finster mit schmalen Mandelaugen beäugte. Darüber wölbten sich düstere, geschwungene Brauen und hinter einer leicht faltigen, hohen Stirn ein paar grausträhnige Haare, die nach hinten vielleicht irgendwie zusammengebunden waren. Der Mann trug einen dunklen, groben Wollmantel und darunter eine schlichte Leinenrobe, blickte drein wie ein alter Indianerhäuptling, dem das Leben übel mitgespielt hat, und nur seine spitz zulaufenden Ohren ließen erkennen, dass es sich wohl um einen älteren Elben handeln musste, aber so einen alten und baufälligen wie diesen hier hatte Luisa noch nie gesehen. Insgesamt wirkte er eher wie ein Vampir aus einem Horrorfilm als wie ein Angehöriger des Elbenvolkes.
„Sind Sie auch krank?“ fragte Luisa von unten zu dem alten Mann hoch, der sie immer noch mit einem Ausdruck leichten Ekels betrachtete, als wäre sie irgendein unangenehmes Ungeziefer. Dabei stützte sich die kleine Zwergfee, als er sie genauer musterte, auf dem Stützästchen ab wie eine winzige alte Oma, was den alten Elben unwillkürlich schmunzeln ließ. Dann schüttelte er den Kopf.
„Die ganze Welt ist krank!“, schallte es nach einer Weile von dem Mann herunter zu Luisa.
Damit traf der alte Mann mitten ins Schwarze, denn auch Luisa fühlte so und sah sich daraufhin dazu ermuntert, dem fremden, uralten Elben all ihr Leid zu klagen über unverständige Krankenpfleger, unzumutbare Pflegezustände und Freiheitsberaubungen und ihr Unbehagen darüber, dass selbst ihre nächsten Verwandten und Freunde sie wohl einfach nicht ernst nähmen.
Der alte Mann musste sich merklich zur Seite neigen, um die piepsige kleine Fee einigermaßen zu verstehen, nickte aber immer wieder und stöhnte leicht, was Luisa Amiratu als Zustimmung deutete, obwohl er sonst nichts sagte. Und so redeten beide sehr lange miteinander, oder besser gesagt, Luisa quasselte auf den alten Mann ein, erzählte von ihren Wünschen und Hoffnungen und dass sie bald wieder arbeiten wolle und noch lange nicht in Rente gehen wollte, dass sie sich gebraucht fühlte und sie tat dies eindringlich so lange, bis es Abend wurde und das Kurhaus tatsächlich einen Suchtrupp schickte, ein paar elbische Krankenpfleger, die sich dann recht ängstlich der Bank und ihrem Besitzer näherten und Luisa, die inzwischen schon sehr müde war, und ihr Beinchen schmerzte sehr, vorsichtig von diesem alten Herren wegholten zurück in den sicheren Bereich des Kurkrankenhauses. Wahrscheinlich wollten sie die kleine Fee auch noch warnen vor dieser Erscheinung, aber Luisa war längst weggedämmert und als Luisa am nächsten Mittag erst wieder aufwachte, inzwischen hatte man ihr einen kleinen Rollstuhl besorgt, beschloss sie natürlich, dass ihre nächste Reise wieder zu dem alten Mann sein würde, weil es die einzige Person hier war, von der sie das Gefühl hatte, dass sie ihr wirklich zuhörte. Die Strecke war allerdings viel zu lang und es dauerte eine Woche, bis sich Luisa fit genug trainiert hatte, den Weg mit Krücken zu nehmen. Fast hätte sie den richtigen Weg auch nicht gefunden, weil das Parkpersonal die Türe verschlossen und ein „Betreten verboten“ davor gehängt hatte. Das war aber alles nichts, was eine Grünfee nicht problemlos ignorieren konnte.
So traf sie wieder bei der Bank im Nebenpark ein und dort saß, als hätte er sonst nichts anderes zu tun, wieder der grummelige alte Elb. Diesmal hatte er sich aber ein wenig besser gekleidet als zuletzt. Und er blickte die kleine Fee auch nicht mehr halb so finster an, obwohl er immer noch eine gefährliche Erscheinung war mit seinem kantigen Gesicht und den zwar etwas trüben, aber funkelnden Augen. Luisa stellte ihm ein paar belanglose persönliche Fragen, zu der sie aber keine brauchbare Antwort bekam und schwenkte dann gleich wieder zu ihrem Lieblingsthema über: ihrer Arbeit als salomenische Botschafterin nebst allen Tätigkeiten und Erfolgen, die früher damit verbunden waren, früher, bevor man sie in diese Kurklinik abgeschoben hatte.
„Ja früher“, grummelte es nun aus dem Mund des Alten, „früher war es besser“ – und schon hatten sich zwei gefunden, denn obwohl es auch an diesem Tag meist Luisa war, die munter drauflos redete, quittierte der Elb ihre Ausführung nun oft mit einem zustimmenden Grummeln. Als es dann dunkel und kalt wurde, es war schon mitten im Herbst, überraschte sie der Alte sogar mit einem „Aufwiedersehen“, was wohl tatsächlich bedeutete, dass sie wiederkommen durfte in seinen Privatgarten, von dem Luisa allerdings gar nicht wusste, dass er gräflicher Privatbesitz war und nicht Teil des Krankenhauses. Aber tatsächlich gehörte dem alten Elben die halbe Stadt. Denn der Alte war tatsächlich niemand anderes als Rufino, der (letzte) Graf von Eldelon, letzter Zweig des alten Elbengeschlechtes der Eldrion aus dem Volke der Orla-Dunkelelben. Das stand zumindest auf der abgewetzten Visitenkarte, die Luisa dann ins Hospital mitbrachte.
Im Krankenhaus war man sichtlich nicht angetan von Luisas neuer Bekanntschaft, denn der alte Graf war dort in der Vergangenheit nicht gerade als Freund der Kurklinik in Erscheinung getreten. Das hing mit dem Amt des Grafen zusammen, der nominell der Graf von ganz Eldelon war, weil ihm dieser Titel einst vom Kaiser des nitramischen Volkes verliehen worden war für seine Verdienste und den tragischen Verlust seiner Söhne im Bürgerkrieg. Da man die Bewohner von Eldalonde davor nicht wirklich um ihre Meinung dazu befragt hatte, genau genommen fühlte sich der elbische Stadtrat davon überrumpelt, stand Rufinos „Herrschaft“ von Anfang an unter keinem guten Stern, zumal der überaus undiplomatische Charakter des Dunkelelben keineswegs dazu beitrug, dass die Beziehung mit den antiaristokratischen Evalanelben besser gedieh. Daher warnte man Luisa recht eindeutig und unmissverständlich vor den Launen des alten Dunkelelben, der in der Vergangenheit eine unbestreitbar lange Reihe von Grausamkeiten vollbracht hatte. Es bedarf aber wohl keiner langen Erklärung, dass Luisa das nicht glauben wollte.
Von nun an wurde es Luisa eine Gewohnheit, zumindest jeden dritten Tag eine kleine Wanderung zum Grafen zu unternehmen und sich dann ausgiebig mit dem alten Elben zu unterhalten. Nun ja, genauer gesagt bestand die Unterhaltung meist darin, dass Luisa Amiratu nahezu ohne Pause auf den alten Mann einredete, aber ganz offensichtlich schien ihm das zu gefallen, denn er hörte, so gut er konnte, aufmerksam zu und irgendwann brachte er sogar Tee und Kuchen zu ihren wöchentlichen Treffen mit. Luisa fühlte sich dadurch persönlich gestärkt und ihre Laune wurde von Tag zu Tag besser und mit der besseren Laune kamen auch ihre Kräfte zurück, obwohl die Herbsttage immer trüber und frostiger wurden, weshalb sich der alte Elbe bei jedem weiteren Treffen etwas winterlicher einhüllte und dann, mit leichter Erkältung, immer öfter von sich aus das Treffen beendete. Trotzdem kam er wohl jeden Tag in den Park (er lag immerhin direkt vor seiner Haustür) und wartete auf der Bank, selbst dann, wenn Luisa nicht kam, was gegen Ende ihres Krankenhausaufenthaltes häufiger vorkam, weil sie nun schon wieder öfter arbeiten durfte. Außerdem besuchte nun häufiger auch ihr alter Freund Keto Celladin Luisa in ihrem Krankenzimmer und Celladin erzählte Luisa begeistert von den magischen Fortschritten ihrer Tochter Thassi und von dem, was sich sonst so in ihrem Bekanntenkreis ereignet hatte: Una Niva war inzwischen Kulturministerin der Neu-Nitramischen Konföderation geworden, Telia, die offenbar heimlich einen Waldtroll als Lebensgefährten ehelichte, wohnte inzwischen in einem Wald im Königreich Kournia, den sie einfach frech „Neu-Emolas“ getauft hatte. Rosa Dudelspru hatte sich auf eine Dozentenstelle an der Universität Sanarth in Ventadorn beworben und diese auch erhalten. Luisa durfte ihr Krankenzimmer nun auch wieder für ihre diplomatischen Tätigkeiten nutzen und schrieb fleißig Briefe an alle ihre Bekannten – und sie bekam auch viel Post retour zu lesen. Das alles begeisterte Luisa so sehr, dass sie den alten Grafen Rufino fast vergessen hätte – aber nur fast.
Am Tag, bevor Luisa aus der Kurklinik entlassen wurde – ja, darauf freute sie sich schon sehr – machte sie sich noch einmal auf zur Parkbank im gräflichen Schlosspark. Es war ein regnerischer Tag Anfang November, die Blätter waren gefallen, ein paar Nachtfröste hatten die Blumen dahingerafft und in der Luft lag die Ahnung eines Wintereinbruchs. Auf der Bank saß blass und zusammengekauert wie immer der alte Graf unter einem kleinen Regen-Baldachin, den er dort wohl für sich aufgespannt hatte, neben sich einen Krückstock, den Luisa nun zum ersten Mal bemerkte, und hüstelte vor sich hin. Als er die kleine Grünfee im Regen auf sich zufliegen sah, richtete er sich merklich auf und etwas Farbe erfüllte wieder sein Gesicht. Ja, mit etwas Optimismus hätte man fast behaupten können, dass sein eingefallenes, faltiges Gesicht noch einmal etwas lächelte. Zumindest versuchte der Graf, freundlich zu schauen. Er packte heißen Tee aus und die beiden begrüßten sich geradezu herzlich, bevor Luisa wieder zu ihrem üblichen Monolog ansetzte und den Grafen mit ihrem Wortschwall erfüllte – und der alte Elbe schien immer weiter etwas aufzublühen bis zu jenem Moment, als Luisa freudig die Kunde davon überbrachte, dass sie am morgigen Tag würde endlich in ihre alte Freiheit entlassen – zurück in ihre Heimat nach Ninda, zu ihrer Familie und ihren Freunden. Da war es Luisa auf einmal, als wenn sich über dem Grafen eine große Finsternis zusammenbraute, denn er sank wieder in sich zusammen, seine Miene verdüsterte sich bedrohlich und eine geradezu hasserfüllte Kälte schwappte zu Luisa herüber, welche die stumme Entrüstung des Grafen nicht wirklich verstehen konnte und sich schnell verabschiedete. Und auch bei der Verabschiedung hatte Luisa das Gefühl, dass der alte Mann sie nun auf einmal aus unerfindlichen Gründen hasste. Und als sie sich beim Gehen noch ein paarmal umsah, sah Luisa, wie der alte Mann weiter in sich zusammensank, wie ein Mensch, dem man den gesamten Lebenswillen genommen hatte. Und der Alte starrte auf den Boden wie jemand, der keine Hoffnung mehr hatte. Luisa wurde mulmig zumute, ja fast wäre sie umgekehrt, um dem Mann noch einmal Mut zuzusprechen. Auf dem Rückblick machte sie sich Sorgen. Aber sie wäre nicht Luisa gewesen, wenn ihre innere Herzenfreude sie nicht schnell von grüblerischen Gedanken abgelenkt hätte. Morgen würde sie endlich wieder zuhause sein! Luisa beschloss für sich, dass sie sich künftig eben schreiben würden!
Dies war das letzte Mal, dass Luisa dem Grafen begegnete, und bevor sie noch die Gelegenheit hatte, ihm wie geplant einen Brief zu schreiben, was Luisa sich selbst wirklich fest vorgenommen hatte, woran sie aber wieder ihre alltägliche Arbeit als Botschafterin hinderte, da erhielt Luisa einen Monat später, es war Anfang Dezember, einen Brief von einer elbischen Kanzlei in Julverne:
Das Schreiben enthielt eine kurze Mitteilung über den Tod des Grafen Rufino Kernest Eldrion CXI., des letzten Schildhalters aus dem Dunkelelbenhaus der Orla, der nach langer Krankheit und im sehr hohen Alter von 250 Jahren in seinem Schloss in Eldelon einsam verstorben war, sowie eine Abschrift seines Testamentes, in der Luisa Amiratu – entgegen aller üblicher elbischer Sitten – nach nitramischem (nicht elbischem!) Recht zur alleinigen Erbin bestimmt worden war.
Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass Luisa von dieser Nachricht sehr schockiert war und darüber in Tränen ausbrach, wie übrigens auch die durchaus vorhandenen entfernteren Verwandten des Grafen von Eldelon. Wobei Luisa hauptsächlich darüber trauerte, dass der nette alte Mann so unerwartet gestorben war, sodass Luisa nun keine Gelegenheit mehr haben würde, ihn nocheinmal zu treffen, während die Verwandten des Grafen hauptsächlich darüber todunglück waren, dass sie so einfach enterbt worden waren und sowohl die schönen Güter als auch die Titel und Ehren nun an irgendeine ausländische Zwergfee gingen, von der sie noch nie zuvor gehört hatten. Auch sonst waren sehr viele Leute aus dem vermeintlichen „Freundeskreis“ des alten Grafen und in der Stadt Eldalonde überaus empört über diesen skandalösen Verlauf der Dinge – was sehr durchschaubar war, aber durchaus bedrohlich – sodass wirklich jeder aus Luisa Amiratus Bekanntenkreis, inklusive ihre Elbenfreunde Käptn Alveran und Keto Celladin, der Grünfee einhellig dazu riet, die Erbschaft besser sofort und ganz unmissverständlich abzulehnen – doch das wollte Luisa nicht, weil sie dem alten Mann nicht auch noch seinen letzten Wunsch abschlagen wollte. Sie waren so unverhofft für immer getrennt worden, deshalb wollte Luisa wenigstens Rufinos Erbe weiterführen.
Und so kam Luisa auf wunderliche Weise zum Titel „Freigräfin von Eldelon“ und zu einer Erbschaft in den Elbenlanden. Dort allerdings zog der Skandal weiter seine Kreise und brachte dann später eine sonderbare Reihe von abenteuerlichen Ereignissen in Gang, die als „Der Fall des Hauses Aeryn“ bekannt wurden. Dies ist aber eine andere Geschichte, die zu anderer Zeit ausführlicher erzählt werden soll.