Das Böse hat in sich keine Substanz, ist ein Modus, der nicht tragend ist, „banal“ in dem Sinne, dass es allgegenwärtig ist. Das macht die Sache aber nicht besser – und es entschuldigt nichts.
Das Böse hat keine Dämonie
Es ist ein beliebtes Missverständnis religiöser Kreise, dem Bösen eine Personalität zuzumessen, die einer Instanz gleich käme, die dem Guten vergleichbar sei. Es mag dem menschlichen Denken entsprechen, da wir ja alles Mögliche um uns herum personalisieren, so ist unser Denken gestrickt, wir sind Beziehungswesen. Und es mag zu sehr schönen binären und dualistischen Modellen führen, verfehlt aber die Realität, da Böse und Gut in der Welt nicht wirklich einander gegenüberstehen und kausal ineinander verwoben sind.
Vielmehr ist das Böse immer nur eine Schwundstufe des wirklich Guten, die bei Menschen meist nur daraus resultiert, dass Ziele mit moralisch fragwürdigen Methoden erreicht werden sollen, ohne dass die Verhältnismäßigkeit zwischen Individuum und Umwelt gewahrt wird.
„Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber, und radikal ist immer nur das Gute.“ – Hannah Arendt
Noch allgemeiner Formuliert: Es handelt sich beim Bösen um Kausalwirkungen, die moralische Kriterien unterlaufen. Dadurch werden in der Regel Beziehungsnetze zerstört oder systemische Vernetzungen missachtet. Insofern ist „das Böse“ ein Modus, keine Instanz. Und da es einer inneren Substanz ermangelt, ist das Böse auch nie nicht wirklich sinnhaft. Daher führt es narrativ betrachtet auch zu keinem guten Ende, selbst wenn es in seinem Tun effektiv wäre, also in einer Geschichte der „Bösewicht“ gewinnen würde. Denn für wahren Erfolg braucht es Sinn, und „das Böse“ besitzt keinen. Für das Böse gibt es storytechnisch nie ein „Happy End“: Es führt nie zum Glück, welches letztlich immer eine Folge von Sinnerfahrung ist. Diese entsteht durch das Erlebnis einer Übereinstimmung von Handeln und Ziel, und dies ist beim real existierenden wie auch beim fiktiven Bösen eigentlich nie gegeben. Deshalb bedarf „das Böse“ eigentlich auch immer der Lüge, um diese unschöne Wahrheit zu kaschieren.
Das Böse als Ärgernis
Für einen moralischen Denker ist die Existenz des Bösen daher ein Ärgernis. Einerseits lässt sich die Existenz des Bösen in der Welt kaum leugnen, ohne auch objektiver Wahrheit ihre Gültigkeit abzusprechen – dazu sind als „böse“ empfundene Zustände in der Welt zu präsent. Andererseits ist gerade deshalb nicht wirklich einsichtig, warum Menschen böse handeln: Denn es macht ja letztlich überhaupt keinen Sinn!
Etwas einsichtiger wird das Ganze, wenn man berücksichtigt, dass es eigentlich immer ein Teil von Menschen in „Sünde“ ist, dass ihnen die innere Einsicht fehlt – ein „böser Mensch“ wird sich – jenseits von Märchenarchetypen – also selten selbst als böse begreifen. Er wird sein Handeln vielmehr mit dem Ziel oder Zweck begründen oder mit den Umständen, die ein moralischeres Handeln angeblich nicht zuließen, sei es, weil die Welt selbst ungerecht sei oder weil man – modernetypisch – sich als willenloser Teil eines Systems begreift, welches ein individuell gutes und von Konventionen oder Einflüssen undeterminiertes Entscheiden nicht mehr leisten könne. Das wäre dann, was Hannah Arendt mit der „Banalität des Bösen“ umreißt: real existierende Übeltäter sind schrecklich banal und langweilig, was ihre Taten zwar in keiner Weise entschuldigt, aber jene furchtbar enttäuscht, die das Böse in der Welt bekämpfen wollen, indem sie die Bösewichte ausmerzen.
„Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemanden getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein.“ – Hannah Arendt
Das Böse und der „Sündenfall“
Dem liegt allerdings noch ein weiterer Irrtum zugrunde: Nämlich, dass böses Handeln stets Ansichtssache sei und von jeweiligen Intentionen abhängig. Diesem Irrtum unterlaufen sowohl nichtreligiöse als auch besonders oft christliche Kreise – teilweise gestützt auf ein unzureichendes Verständnis des „Sündenfalls“.
Sicher ist es, wenn es um die Frage nach Schuldfähigkeit geht, von großer Relevanz, wie eine Handlung intendiert ist und ob ein Mensch überhaupt in der Lage ist, seine eigenen Handlungen moralisch zu bewerten. Das wiederum setzt die Fähigkeit voraus, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden – eine Fähigkeit, die in Genesis 3 beschrieben wird, der Geschichte von Adam, Eva, der Schlange und dem Apfel, der die Erkenntnisfähigkeit zwischen gut und böse verleiht.
Aber anders als manche theosophische Kreise postulieren, entsteht der „Sündenfall“ nicht aus der Unterscheidungsfähigkeit oder Willensfreiheit – das Böse existiert nämlich schon davor. In der biblischen Geschichte von Genesis 3 ist das Böse schon vorab präsent in Form der Schlange und ihrer Verführung, die dem Sündenfall vorausgeht – insofern wird die Existenz des Bösen in der Sündenfallgeschichte auch nicht erklärt, vielmehr stellt sie die Folgen persönlicher, zwischenmenschlicher Verstrickung fest und bringt im Anfangsmythos vom Sündenfall ein herrliches Beispiel, wie sich Menschen persönliches Versagen aufeinander abschieben: Adam schiebt im Gespräch mit Gott die Schuld auf Eva, Eva auf die Schlange.
Das Böse entsteht aber nicht nicht erst durch die Einsicht, ansonsten würde der Vorwurf Gottes an Adam keinen Sinn machen – denn die Erkenntnis von Gut und Böse ist ja eine Folge der von Gott beanstandeten Handlung, dass sich die Menschen nicht an sein Gesetz (nicht von dem Baum der Erkenntnis zu essen) gehalten haben – und dies wird sanktioniert. Als Adam den Apfel aß, hatte er aber noch gar nicht die Einsichtsfähigkeit, die der Baum der Erkenntnis verursacht:
„Zu Adam sprach er: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. / Unter Mühsal wirst du von ihm essen / alle Tage deines Lebens.“ – Gen 3,17
Daher taugt die Geschichte vom Sündenfall nicht, um die Existenz des Bösen zu ergründen. Vielmehr erklärt sie, warum die Welt der Menschen kein Paradies mehr ist – und zwar deshalb, weil die Menschen Gottes Gebot übertreten haben und sich damit in Schuld verstrickten. Das ist auch daher wichtig, weil die biblische Geschichte damit gleichzeitig auch konstatiert, dass es Handlungen gibt, die per se schlecht sind.
Damit widerspricht die biblische Sicht auf das Böse auch der existenzialistischen Ansicht, dass Handlungen oder Zustände in der Welt an sich weder gut noch böse sind und ihre moralische Qualität erst „für sich“, also durch das Individuum entsteht. Die biblischen Schriften stellen dem gegenüber fest, dass göttliche (oder moralische) Gebote als Maßstäbe universell gelten – daher wird auch die Schlange bestraft, obwohl sie kein Mensch ist und es nirgends erwähnt wird, ob sie selbst vom Baum der Erkenntnis gegessen hat. (Da es sich bei ihr um ein Symbol oder sogar Archetyp handelt, ist es sogar eher unwahrscheinlich, dass sie in der Geschichte als moralisch handelndes Individuum gedacht wird.)
Das Böse und KIs
Das mag einer modernen Betrachtungsweise übel aufstoßen, weil wir das Böse ja doch oft eher nur an einer individuellen Absicht festmachen und universelle Ideen hinterfragen. Allerdings konstatiert selbst die moderne Theodizee-Frage1Theodizee heißt „Gerechtigkeit Gottes“ oder „Rechtfertigung Gottes“. Gemeint sind verschiedene Versuche einer Antwort auf die Frage, wie das Leiden in der Welt mit der Annahme zu vereinbaren sei, dass ein Gott sowohl allmächtig, allwissend als auch gut sei (Definition nach Wikipedia)., dass es auch Böses gibt, was nicht durch Intentionen entsteht: Wenn bei einem Vulkanausbruch Menschen ums Leben kommen, wäre es natürlich irrsinnig, dem Vulkan böse Absichten zu unterstellen. Aber durch einen Vulkanausbruch ums Leben zu kommen ist im Ergebnis nicht weniger schlimm als wenn es durch ein Verbrechen geschieht, es bleibt eine Erfahrung des Bösen. Naturkatastrophen sind „Böses“, das in der Welt geschieht.
Dem natürlichen Gespür für Ungerechtigkeiten in der Welt ist das auch durchaus bewusst und dies zu beachten wäre gerade heute auch sinnvoll – weil in diesem Sinne nämlich auch KIs generell sehr wohl zu Bösem fähig sind, insofern sie ins Netz der menschlichen Beziehungen eingreifen und ganz unabhängig davon, ob sie ein Bewusstsein besitzen oder nicht. Es wäre daher überaus naiv und auch hochgefährlich zu glauben, dass eine Welt, die durch KIs reguliert wird, eine bessere wäre dadurch, weil KIs ja – mangels echtem Bewusstsein – keine bösen Absichten haben. Darauf kommt es aber gar nicht an, sondern darauf, ob ein System moralischen Kriterien genügt. Die Frage nach der Schuldfähigkeit ist eigentlich nur dort von Relevanz, wo es um die Haftungsfrage geht. Ansonsten muss sichergestellt werden, dass aus systemischen Handlungen keine moralisch verwerflichen Folgen entstehen, unabhängig davon, um welche Art von Agent es sich handelt – dahingehend ist auch eine staatliche Gesellschaft zu strukturieren, ob sie nun analog oder digital realisiert werden soll.
Denn böse ist letztlich alles, was moralische Grundsätze untergräbt, ob es nun durch bewusstes Handeln oder eine Naturgewalt geschieht oder durch ein autonom agierendes System.