Die übermüdete Gesellschaft

Übermüdung ist ein gesellschaftliches Grundproblem geworden (Foto: Tara Winstead via Pexels)
Übermüdung ist ein gesellschaftliches Grundproblem geworden (Foto: Tara Winstead via Pexels)

In ihrem Kommentar „Die müde Gesellschaft“, getarnt als Reportage, weist Nicole Kohnert auf das Phänomen der kollektiven Ermattung hin; allerdings ohne die eigentlichen Gründe zu erkennen.

Artikel der Tagesschau neigen dazu, meinen Blutdruck in die Höhe zu treiben, denn sie geben meist nur eine recht enge Weltsicht der bürgerlichen Elite Deutschlands wieder. Immerhin findet sich dort keine Bezahlschranke, aber ich zahle auch genug dafür jeden Monat.

Im Sinne der Aufklärung, das sei vorangestellt, halte ich einen öffentlichen Rundfunk für notwendig und sinnvoll. Das Konzept von Rundfunkanstalten als Anstalten des öffentlichen Rechts, also nicht Staatsfunk, scheint mir überaus praktikabel und nützlich. Jedoch hadere ich mit der aktuellen Generation der Journalisten und ihrer Berichterstattung – denn sie erfolgt herab von einem meritokratischen Thron des unterschwelligen Besserwissens und ist doch oft recht wenig selbstreflektiert.

In diesem Sinne fand ich auch die „Reportage“  „Die müde Gesellschaft“ von Nicole Kohnert bemerkenswert. Es handelt sich allerdings nicht um eine Reportage, sondern eher um einen kommentierenden Essay – denn die Behauptungen im Text basieren nicht unbedingt aus den angeführten Beispielen, wenngleich die Erkenntis grundsätzlich durchaus zutreffend ist: Es lässt sich eine gewisse ausufernde Müdigkeit in unserer Gesellschaft feststellen. Doch die angeführten Gründe sind falsch.

Diese Müdigkeit rührt nämlich, anders als behauptet, nicht aus Folgen der Inflation her oder daraus, dass die Familien heute, z. B. durch gestiegene Mieten, weniger Geld zur Verfügung haben als früher – das geben die angeführten Studien schlichtweg auch nicht her. Und Geld war in Familien auch früher immer schon ein knappes Gut, zumal früher in Familien auch nur ein Verdiener vorhanden war und nicht mehrere, wie das heute meist die Regel ist. Auch glaubte man früher nicht, dass bloßes Kapital gegen Ermattung helfen würde, was man heute oft tut. Zudem ist Müdigkeit zu unterscheiden von Perspektivlosigkeit, die den Antrieb auch hemmt, aber etwas anderes ist als Müdigkeit. Den eigentlichen Grund für die innerliche Ermattung vieler Menschen in Deutschland, was übrigens Singles gleichermaßen betrifft wie Familien oder kinderlose Paare, ist nicht das Geld und auch nicht die Corona-Krise – beides beschleunigte nur das Sichtbarwerden der Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann.

Ich stimme der Autorin daher nicht darin zu, dass gestiegene Lebenshaltungskosten oder ein planloses Handeln der Politik daran schuld seien, dass sich immer mehr Menschen „müde“ fühlen. Denn es ist weder die Aufgabe der Politik noch der Wirtschaft, Lebensperspektiven und Lebensmodelle zu gestalten – gerade wenn man auf Individualität und Liberalität so großen Wert legt, wie das die Feuilleton-Elite in Deutschland so gerne tut, sollten sich Wirtschaft und Politik aus der Sinnfrage tunlichst heraushalten. Ansonsten ist immer ein autoritäres System die Folge. Und Müdigkeit findet sich übrigens auch in autoritären Systemen. Wenigstens erspart die Autorin dem Leser, das ganze auch wiederum mit dem Klimawandel zu begründen, der sicher auf vieles negative Auswirkungen hat, aber nicht darauf, ob das eigene Leben Sinn hat oder nicht.

Das Gefühl von Übermüdung lässt sich dagegen tatsächlich feststellen, fast überall. Immer mehr Menschen fühlen sich innerlich aufgerieben. Übermüdung resultiert aber nicht aus Geldmangel – sie resultiert meist daraus, dass es nicht gelingt, im Leben genug Erholung zu erfahren. Als Mensch mit chronischen Schlafstörungen weiß ich ein Lied davon zu singen.

Allerdings ist unsere Gesellschaft tatsächlich auch so konstruiert, dass Erholung darin nicht wirklich gefördert wird, da man glaubt, dass alles durch technischen Fortschritt besser wird. Die Konsumgesellschaft ruht nie, alles muss expandieren, wachsen, immer schneller und effizienter werden. Das spiegelt sich in ihrem kulturellen Überbau, der Social-Media-Welt und in der Realwelt an der Kannibalisierung des Sonntags als Ruhetag durch immer häufiger betriebene Sonntagsverkäufe. Nebeneffekt ist, dass alles immer dichter und auch lauter wird, pausenlos. Das kann man sehr gut mit Maschinen oder Softwareprogrammen machen, die dann einfach schneller funktionieren und vielleicht häufiger „upgegraded“ werden müssen, aber Menschen tut es körperlich und seelisch nicht gut – im Gegenteil, immer häufiger hasten die Menschen den selbstkonstruierten Mechanismen hinterher oder werden sogar grob hinterher geschleift. Das trifft Erwachsene ebenso wie Kinder und Jugendliche und noch nie in meinem Leben hatte ich mit so vielen Jugendlichen zu tun, die Burnout-Merkmale aufweisen, wie heute.

Die zunehmend zwangsweise umgesetzte Digitalisierung der Gesellschaft löst dieses Problem nicht, sie verschärft es sogar und in gewisser Weise ist sie oft auch Ursache. Statt aber zu erkennen, dass hier etwas gesellschaftlich schief läuft, schiebt man es auf die persönliche Verantwortung ab, wie man damit umzugehen hat – Mediensucht und Burnout gelten als persönliches Problem, man glaubt, die Jugendlichen oder deren Eltern oder die Lehrer seien selbst dafür verantwortlich. Diesen ergeht es aber meist auch nicht besser und mangels Selbstreflexion überschauen auch die wenigsten, was eigentlich Ursache ist – nämlich dass man die Menschen damit schlichtweg oft überfordert. Weist man als Lehrkraft darauf hin, gilt man als Fortschrittsverweigerer, der einfach die Methoden nicht effektiv genug einsetzt. Dabei ist es gerade die übertriebene Effekthascherei und Effizienzsucht, die dazu führt, dass Menschen keine innere Reserven mehr frei halten können.

Was von Influencern in den „sozialen Medien“ als Lösung gegen innere Ermüdung verkauft wird, meist digitalisierte Pseudospiritualität, ist in der Regel nicht mehr als eine andere Spielart des Konsumierens. Wenn man das kritiklos übernimmt, kann man tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass es an fehlendem Geld liege, wenn man sich den „Wellness-Konsum“ einfach nicht mehr leisten kann. Menschen gewinnen aber keinen Sinn und auch keine innere Erholung durch Konsumieren, auch wenn die Werbung uns da anderes weismachen will. Tatsächlich ist die Werbeindustrie mit ihren pseudoreligiösen Botschaften für viele heute aber oft Ersatzreligion, bei der die Menschen Sinn suchen. Konsumevents und Wellnessprodukte florieren, füllen jedoch die innere Leere nicht, sie lassen sie im Gegenteil weiter anwachsen, und das ist auch so gewollt – so funktioniert die kapitalistische Konsumgesellschaft. Für das innere Gleichgewicht und den Seelenfrieden ist das aber Gift immer Sinne einer Droge, die den Schmerz nur kurzfristig betäubt, nicht mehr ein „Opium des Volkes“, aber ein hippes Betäubungsmittel gegen individuelle Sinnleere – es betäubt den Schmerz, aber es laugt aus und vor allem trägt es nicht, wenn es wirklich nötig wäre.

Und darum übrigens bin ich der Überzeugung dass sich die katholische Kirche in Deutschland seit Jahren auf dem Holzweg befindet, wenn sie Seelsorgeeinheiten immer weiter zusammenlegt werden und man sich darauf konzentriert, ein Event-Veranstalter zu sein. Kirche wird dadurch ortlos. Wir Menschen aber brauchen keine Events, wir brauchen Orte der Stille und des Stillehaltens – „Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach da zu sitzen und vor sich hin zu schauen.“ – um es mit Astrid Lindgren zu sagen. Aber genau das wird immer seltener in unserer ewig wach gehaltenen Gesellschaft. Und auch Kirche versagt hier zunehmend. Und so ermüden auch jene wenigen Menschen, die noch spirituell im ursprünglichen Sinne wären und die wüssten, wie man sich innerlich erneuern könnte – wenn man sie ließe.

Über Martin Dühning 1507 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.