Wie ich festgestellt habe, unterscheidet sich meine Zeitwahrnehmung etwas von der anderer Leute, weil für mich Zeit ein Kontinuum ist. Daher existiert meine Vergangenheit nicht getrennt von mir.
Mir ist das Konzept von „Vergangenheit“ sehr wohl bewusst und auch, dass es Dinge gibt, die aus und vorbei sind – Vergangenheit existiert allerdings für mich nur insofern, als es Ereignisse oder Personen betrifft, die ich nie selbst erlebt habe, denn mit den Ereignissen, an denen ich teilnahm oder Personen, die ich erlebt habe, verhält es sich anders: Diese sind oft bleibender Teil meiner Gegenwart, indem ich sie in Gedanken und Gefühlen vergegenwärtige, was teilweise auch an meinen recht guten Situationsgedächtnis liegt (im Unterschied zu meinem eher schlechten Namensgedächtnis). Ich kann Personen und Orte visuell, akustisch, sinnlich und olfaktorisch vergegenwärtigen. Insofern fühlt sich das dann für mich sehr wirklich an. Indem ich es so vergegenwärtige, ist es Teil meiner Gegenwart – und nicht Vergangenheit.
Faktisch bedeutet das, dass ich den Tod oder das Ende einer Beziehung nur als Zustand des Getrennt-Seins-in-der-Wachwelt kenne, denn in meinen Wachträumen, seien es Tagträume oder luzide Träume, begegne ich sehr oft Personen, die eigentlich nicht mehr existieren und Orte, die nicht mehr Teil meines Lebens sind. Das mag erklären, warum ich Orte aus meiner Vergangenheit so selten besuche (wozu auch, wenn sie in mir sind?) und der Wunsch, „überlebte“ Personen aus meiner Vergangenheit zu treffen, bei mir sehr unausgeprägt ist, um nicht zu sagen: Ich empfinde das als äußerst unangenehm. Denn wenn ich auch nicht ganz verstehe, wie man etwas, das man selbst erlebt hat, als abgehakt betrachten kann, ohne einen Teil seines lebendigen Selbstes zu verleugnen, so ist mir das Vergehen von Zeit sehr wohl bewusst. Und ich empfinde einen tiefen Ekel gegen Zerfallszustände. Das wäre für mich, als würde man mit Toten sprechen. Totenkulte jeder Art lehne ich ab.
Vielleicht deshalb verfolgen mich manche meiner „vergangenen“ Beziehungen auch als Zombies in meinen Alpträumen, also als seelenlose Zerfallsgestalten, weil sie es in der Welt meiner Wachträume und meines Erinnerns eben nicht sind, obschon mir bewusst ist, dass mein Innenleben mit der äußeren Realität meist nicht korreliert (da ich allerdings in einer eher unsensiblen, wenn nicht gar feindseligen Umgebung aufgewachsen bin und lebe, habe ich eine harmonische Korrelation sowieso selten erlebt in meinem Leben). Problematisch empfinde ich die Warnhinweise meines Unterbewusstseins daher eher nicht, nur lästig und ärgerlich, weil ich zwar die Fähigkeit besitze, Alpträume jederzeit zu beenden oder in luzide Träume umzuwandeln, aber dann eben auf Kosten der Nachtruhe. Und Erholung habe ich ohnehin nur selten.
In Tagträumen ist es aber überaus praktisch, zu Orten und Personen zurückkehren zu können, die nicht mehr Teil meiner Alltagsrealität sind. Immerhin habe ich viele überaus bemerkenswerte Personen in meinem Leben getroffen, zu denen ich zwar meist nie eine ständige Beziehung aufgebaut habe, die aber in ihren jeweiligen Wirkbereichen sehr hilfreich waren, beispielsweise mein Kunsterzieher Roland Ueber, mein Klassenlehrer Christian Wirth aber auch meine Geschichtslehrer Klaus Haselier und Erwin Braun. An ihre Unterrichtsstunden denke ich gerne zurück und wenn ich so vergangene Begegnungen Revue passieren lasse, erhalte ich oft auch nützliche Anregungen für gegenwärtige Probleme. Ähnlich verhält es sich mit vergangenen Freundschaften – und das ist vielleicht deren größter Wert, dass man sich an sie zurückerinnern kann, denn tragend für meinen Alltag waren diese Freundschaften selten.
Es ist natürlich immer etwas traurig und ich sehe auch mit Neid auf Menschen, die es geschafft haben, lange und tragfähige Beziehungen aufrechtzuerhalten, womöglich sogar Beziehungen fürs Leben. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich auch nicht von den jeweiligen Selbstbildern der Menschen täuschen lassen darf, die mit ihren Freundschaften prahlen. Viele solcher „Langzeitbeziehungen“ dauerten zwar lange, hatten aber oft nicht die Tiefe, die ich erlebt habe (zumindest, wenn man darauf lauscht, wie die Beziehung definiert wird). Ja, oft heißt „Beziehung“ für diese Menschen nur, dass sie eine Zeit lang beieinander leben, oder sich zwar irgendwie regelmäßig, aber teils nur einmal jährlich treffen, und dann Plattitüden austauschen, ohne sich wirklich nahe zu kommen. Das sind dann keine „Begegnungen“ im Dauerzustand, wie man vielleicht meinen könnte, sondern nur Gewöhnungen und das, was ich eigentlich nicht „Freundschaft“ nenne, sondern „Bekanntschaft“.
Ich zumindest mache die Qualität – zumindest der Beziehungen, die ich erinnere – nicht an der Länge der Gewöhnung fest, sondern an der Tiefe des Eindrucks, welche die Person bei mir hinterlassen hat. Aber das mag vielleicht auch daran liegen, dass ich nur solche memoriert habe.
Das ist die Tücke der Erinnerung.