Lügen, Unwahrheiten und verdrehte Fakten

Pinocchio (Foto: Florencio Rojas via Pexels)
Pinocchio (Foto: Florencio Rojas via Pexels)

Lügen sind moralisch verwerflich, allerdings psychologisch nachvollziehbar. Letzteres ändert aber nichts daran, das eine Lüge mängelhaft bleibt.

Das Problem der Lüge

Über den Sinn und Unsinn von Lügen ist unter Philosophen schon viel gestritten worden. Viel hängt auch davon ab, was man unter dem Gegenteil, der Wahrheit, versteht. Dennoch bleibt fast unumstritten, dass die Lüge problematisch ist von ihrer inneren Verfasstheit her.

Nach unserem modernen Verständnis ist die Lüge eine unwahre Behauptung, über deren Unwahrheit sich ihr Verfasser bewusst ist. Glaubt er selbst an die Wahrheit seiner Behauptung, spricht man in der Moderne nicht mehr von Lüge, sondern von einem Irrtum oder einem Fehler.

Damit kann man auch gleich zum Punkt kommen, was an der Lüge grundsätzlich nicht stimmt: Ihr Verhältnis zur Wahrheit. Und genau das macht Lügen problematisch.

Das Problem der Lüge ist nämlich nicht, dass man ihr nicht glauben würde oder glauben wollte. Lügen sind bei den Zuhörern oft sogar sehr viel beliebter als die Wahrheit, was sich die meisten Lügner auch zunutze machen, indem sie den Leuten genau das geben, was sie gerne wollen. Die Lüge passt daher zu demjenigen, für die sie gedacht ist.

Das Problem der Lüge ist deshalb auch nicht, dass die Lüge nicht schön wäre. Im Gegenteil: Lügen sind meist viel schöner und galanter als die nackte Wahrheit, die in der Regel eher verstört. Und, anders als man in der Moraltheologie gerne postuliert, ist das grundsätzliche Problem der Lüge nicht, dass sie Vertrauen zerstört. Das tut sie zwar auf lange Sicht auch, aber dies ist eher eine Folge ihres eigentlichen Konstruktionsfehlers.

Das Grundproblem der Lüge ist, dass sie nicht zur Wahrheit passt und gegenüber der Wahrheit nicht bestehen kann. Die Lüge ist künstlich und bedarf stetiger Sorge und Kraftinvestition, um sie aufrecht zu erhalten. Die Wahrheit dagegen kommt, wenn man dem nicht entgegenwirkt, bei den halbwegs verständigen Betrachtern ganz automatisch ans Tageslicht, weshalb das mit der Lüge immer so ein Problem ist, weil sie, selbst wenn sie gut gemeint ist, nicht wirklich dauerhaft hilft und auch nicht dauerhaft Probleme oder Konflikte lösen kann (womit wir dann wieder beim Vertrauen wären, das dadurch zerstört wird, dass die Wahrheit früher oder später ihren Tribut fordert von allen Beteiligten).

Gerne verwechselt wird die Lüge im Diskurs mit der Ansicht. Die Lüge ist aber keine Ansichtssache. Die Ansicht vertritt eine Sichtweise auf die Wahrheit, die vielleicht einseitig sein mag oder subjektiv, aber die sich mit der Wahrheit insgesamt noch vereinbaren lässt. Dagegen sind Lügen, auch wenn sie sich als „alternative Fakten“ präsentieren, Verfälschungen der Wahrheit, die anders als die Ansicht, mehr als nur Perspektive, selbst mehr als Verzerrung ist.

Allgegenwärtige Unwahrheiten

Psychologen weisen gerne darauf hin, dass die Lüge durchaus positive Aspekte hat, beispielsweise ist sie ein Zeichen von Intelligenz, Bewusstsein und Empathievermögen. Sie gehören zur kleinkindlichen Sprach- und Charakterentwicklung dazu.Wenn kleine Kinder lügen, ist das kognitiv eine große Leistung (das macht sie moralisch aber nicht gut): Ein Lügner zeigt, dass er sich ein Bild von der Realwelt machen kann, dass er von dieser abstrahieren und sein Weltbild bewusst verändern kann. Seine abstrahierte Wirklichkeit muss, damit die Lüge überzeugt, detailliert genug sein und besonders der Adressatenbezug verlangt dem Lügner Empathie ab. Gute Lügner müssen sich nämlich auch in ihr Gegenüber hineinversetzen können, damit die Lüge passend konstruiert wird. Das ist schon eine herausragende kognitive und soziale Leistung. Aber wie gesagt, moralisch macht das die Lüge nicht besser.

Die kleinkindlichen Lügen dienen der Sprachentwicklung – als solche sind sie Teil der frühkindlichen Entwicklung. Spätestens im Grundschulalter sollten sie sich ausgewachsen haben.

Auch unsere Alltagshöflichkeiten sind meist kleine Lügen. Die wenigsten Menschen, die einem einen „Guten Tag!“ auf der Straße wünschen, meinen dies ernst, auch diverse Komplimente halten oft keiner Überprüfung stand und wären Höflichkeitsfloskeln alles, was eine Gesellschaft zusammenhält, wäre es übel um sie bestellt. Der Sinn von Höflichkeit liegt daran, darauf hinzuweisen, dass man das Gegenüber achtet und Distanz hält. Letzteres ist nötig, weil wir uns in der Modernen Welt oft viel zu nah kommen. Der höfliche Mensch will also nicht die Welt verbessern, wenn er höflich grüßt (und dabei lügt), sondern Ärger vermeiden. Das funktioniert auch, sofern die Höflichkeitsfloskeln mit einem entsprechend vorsichtigen und respektvollen Verhalten verknüpft sind. Ist es das nicht, wie das teils in meiner Nachbarschaft der Fall ist, dient das Grüßen nur als Machtdemonstration und Höflichkeit nur als Manipulationsversuch. Spätestens dann würde Knigge den Rückzug empfehlen, denn in solchen Situationen macht Höflichkeit keinen Sinn mehr.

Knigge, dessen Höflichkeitslehre Teil unserer Alltagskultur geworden ist, ging es darum, dem Bürger ein möglichst friedvolles Leben mit missliebigen Nächsten zu ermöglichen. Seinem Denken lag eine aufgeklärte, wahrhaftige und vor allem respektvolle Welthaltung zugrunde. Höflichkeits- und Anstandsregeln taugen daher nicht dazu, die Lüge zu rechtfertigen, zumal sie meist automatisch und selten reflektiert angewendet werden. Insofern fehlt hier die typische Täuschungsabsicht und der Adressenbezug, der zumindest für gute Lügner ein Qualitätskriterium wäre.

Ich habe in meinen Leben immer wieder auch erlebt, dass Menschen lügen, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlen. Insofern sind Lügen immer auch ein Zeichen der Schwäche, nämlich dann, wenn die Wahrheit als unerträglich erscheint und man glaubt, der Lüge zu bedürfen, um sich zu retten. Diese Art von Notlüge erfolgt aus dem Bedürfnis heraus, Freiheit und persönliche Unversehrtheit zu wahren. Das ist ernst zu nehmen und daher teile ich auch nicht Kants rigorose Ablehnung von Notlügen. Allerdings teilt die Notlüge das Grundproblem aller lügen: Sie verträgt sich nicht mit der Wahrheit und zeigt meist an, dass etwas mit der zugrundeliegenden Beziehung nicht stimmt. Spätestens wenn sich Eheleute regelmäßig belügen sollte eine Aussprache erfolgen, weil ansonsten auch die Beziehung selbst zur Lüge wird. Es dürfte selbstredend sein, dass in Unrechtsregimen wie autoritären Diktaturen, wo Notlügen eine Überlebensfrage werden, es um die Gerechtigkeit und Beziehungen aller Menschen schlecht bestellt ist. Die Notlügen spiegeln dort auch nur die Machtlügen des Regimes.

Die Wahrheit kommt immer ans Licht

Diktatoren lügen meist immer, um ihre Interessen durchzusetzen. Man könnte glauben, das sei machiavellistisch klug – doch das ist es mitnichten, zumindest nicht in aufgeklärten Gesellschaften. Das zweite große Problem der Lüge ist nämlich, dass sie als Gegen-Wahrheit verlangt, ständig ausgebaut werden zu müssen. Denn die Wahrheit muss kaschiert, mit einem Lügengespinnst umgarnt und mit falschen „Fakten“ zugemauert werden. Dieser recht aufwendige Prozess kommt nie zu einem Ende: Lüge um Lüge wird aufgeschichtet, das Ganze muss auch noch statisch abgesichert werden und spätestens, wenn verschiedene Personen mit verschiedenen Perspektiven vom Lügengebäude überzeugt werden müssen, wird es sehr, sehr aufwendig. Das Sprichwort „Der Lügner muss ein gutes Gedächtnis haben“ weist auch darauf hin, dass große Lügen ein Langzeitprojekt sind, bei dem sehr viel Lebenskraft draufgeht.

Das ist nicht ganz das, was Nicolo Machiavelli meint, wenn er davon spricht, wie ein Herrscher effizient sein kann: „Ein kluger Herrscher kann und sollte sich der Täuschung bedienen, wenn es notwendig ist, um seine Staatsmacht zu erhalten.“ (Il Principe), zumal man dabei auch berücksichtigen muss, dass es Machiavelli nicht darum geht, einen „Knigge für erfolgreiche Menschen“ zu schreiben, sondern um eine frühaufklärerische Beschreibung dessen, wie die Welt der Politik damals wie heute funktioniert: „Wer an die Welt glaubt, glaubt an eine Lüge, welche die Wahrheit überdeckt.“ (Il Principe)

Solange man kein Machtpolitiker ist, dem die Wahrheit macht- und lebenstechnisch zum Verhängnis würde, wenn sie dann doch ans Licht kommt, besinnen sich deshalb die meisten Menschen darauf, die Lüge irgendwann aufzugeben. Ansonsten müssen sie sie bis zum Grab mühsam am künstlichen Leben erhalten, denn in dem Moment, wo sie zurückweichen, bricht die Lüge zusammen, kommt die Wahrheit ans Licht. Ein beliebter Versuch, das zu verschleppen, ist, die Lüge religiös oder ideologisch zu überhöhen. Aber auch das funktioniert nicht wirklich bei aufgeklärten und verständigen Menschen.

Ist die Lüge aber entlarvt, fällt das auf den Lügner zurück, aber auch auf alle, die an seine Lügen glaubten. Das entlarvt die Belogenen, raubt ihnen das Gesicht – und das bleibt nicht ungestraft.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.