Wir sind unser Leben!

Wir existieren in Beziehungen (Foto: Min An via Pexels)
Wir existieren in Beziehungen (Foto: Min An via Pexels)

Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass wir getrennt von unserem Leben existieren würden, denn wir sind unser Leben. Daher laufen alle Bemühungen fehl, sein Leben einfach auszutauschen.

Der individualistische Fehlschluss

Viele Ratschläge unserer Zeit zielen darauf ab, sich und sein Leben zu optimieren, was in aller Regel daran scheitert, dass unser „Ich“ keine objektive Instanz ist, einem Aufseher gleich, die herrschaftlich waltend über unserem Leben stünde.

Es gibt kein vom Leben getrenntes Ich – und die Illusion, dem wäre so, resultiert aus unserer Gabe heraus, uns eine innere Repräsentation von unserem Erleben zu erschaffen, welche wir katalogisieren und in Bezug setzen, wozu wir das Konzept des „Ich“ entwickeln. Dies ist ein natürlicher Bestandteil unseres abstrahierenden Denkens und Verstehens und meines Erachtens macht es keinen Sinn, diesen zu tilgen, denn diese Art der Weltbewältigung ist ja durchaus meist zielführend im Alltag.

Um Missverständnissen zuvorzukommen: ich möchte dies nicht als billigen Konstruktivismus missverstanden wissen, der eine Realität jenseits unserer Verstandeskonstruktionen leugnet. Die Welt ist nicht nur Fiktion, aber unser Denken ist oft fiktional – was sinnvoll ist, aber durchaus sinnvoll ist es auch, sich seiner eigenen Fiktionen bewusst zu sein und auch dem Umstand, dass diese der Objektwelt um uns herum an Komplexität einfach nicht gerecht werden. Daher sind wir zur Rejustierung permanent auf Relationen, also Erfahrungen angewiesen und sollten uns nicht ganz in unserer Innenwelt erschöpfen.

Es macht aber durchaus Sinn, unser Verhalten zur Umwelt zu steuern. Denn als bewusste, empfindungsfähige Wesenheiten haben auch wir unsere Bedürfnisse, auf die wir Rücksicht nehmen müssen.

Egotrips und Selbstoptimierungsversuche

Problematisch wird es, wenn wir unser „Ich“ verabsolutieren, wenn uns nicht bewusst ist, dass wir keine autonome Instanz sind, sondern Bewusstsein auch ein Ergebnis ist unserer Beziehungen. Bewusstsein ist relational. Menschsein ist kein rein-geistiger Akt, sondern körperlich, nicht bloß materiell, aber organisch. Wir Menschen sind keine Maschinen, sondern Organismen. Körper und Geist sind keine getrennten Instanzen, sondern gehören zusammen – und nur als solche Einheit existieren wir, verflochten in das Netz unserer Umwelt. Und das macht alle Versuche, allein aus uns selbst heraus unser Ich und unser Leben zu perfektionieren, sehr gefährlich, denn es betrifft nie nur uns selbst.

Sicherlich ist es überaus praktisch für den „Seelenfrieden“, toxische Erfahrungen zu vermeiden (und entsprechende Beziehungen zu beenden), aber oft, wenn wir heute mit unserem Leben unzufrieden sind, gerade in einer Wohlstandsgesellschaft mit ihren Luxusproblemen, liegt das leider auch an unserer Art, wie wir mit den Bezügen um uns herum umgehen. Sein Leben zu verändern bedeutet insofern, dass man sich gleichzeitig selbst auch verändert, jeder Versuch, sein Leben nur „auszutauschen“, indem ich die Rahmenbedingungen wechsle, ist unzureichend. In diesem Falle läuft man dann nämlich nur vor sich selbst weg, was nicht funktionieren kann. Umgekehrt kann man sich selbst auch nicht verändern, wenn man dabei nicht auch sein Umfeld mitbedenkt. Das ist im Übrigen auch eines der Probleme mancher Krankheiten – krank ist nicht nur der Körper, oder gar der Geist. Krankhaft ist oft auch das umgebende Umfeld – weshalb „Heilung“ auch mehr ist als ein Beheben körperlicher Probleme. Es hat in ungeheurer Weise auch eine soziale Dimension.

Fügungen

Das sollte man jetzt nicht metaphysisch überhöhen, sondern ganz praktisch angehen: Es gibt weder Schicksal noch die absolute Freiheit des Ich – die „Person“ gibt nur in Relationen und insofern Fügungen. Eine Fügung ist nichts Unausweichliches, sie ist etwas, was passt. Was zusammenpasst, das fügt sich oft. Das kann gut sein, wenn man beispielsweise Menschen findet, die gut zu einem passen und bei denen man sich wohlfühlt, es kann aber auch schlecht sein, wenn man beispielsweise Neigungen besitzt, die zu Suchtverhalten führen. Bei beidem ist wichtig, dass es immer auch Möglichkeiten zur Steuerung gibt. Nur weil etwas passt, muss man es ja nicht zwangsläufig zusammenfügen. Darin besteht Freiheit, auch, wenn uns das oft nicht bewusst ist, weil Fügungen keine reinen Willensakte sind: Je nachdem, wie wir mit unserer Umwelt interagieren, ziehen wir vielleicht immer wieder die gleiche Sorte von Menschen an, wenn wir das nicht wollen, müssen wir uns aber auch überlegen, inwiefern wir durch unsere eigenen Stimmungen und Beziehungssignale dazu beitragen, dass sich ebensolche Leute von uns angezogen fühlen und andere, die wir vielleicht lieber hätten, eben leider nicht.

Charisma

Was wir „ausstrahlen“, ist nicht angeboren, nie fix, sondern ein Ergebnis unseres Gewordenseins – unseres Lebens. Das sogenannte „Charisma“, was manche Leute stärker ausstrahlen als andere, lässt sich durchaus auch bewusst beeinflussen, da (echte, nicht virtuelle!) Beziehungen meiner Erfahrung nach nicht von Grobkategorien wie Geschlecht, Alter oder Sozialstatus oder anderen Stereotypen determiniert werden, sondern von den sublimen Zwischentönen, die bei authentischer Kommunikation immer mitschwingen.

Deshalb ist „Schönheit“ auch keine Frage des Aussehens, sondern eine Frage der Harmonie. Ich würde die These aufstellen, dass Menschen auf uns „schön“ und „attraktiv“ wirken, wenn sie zumindest scheinbar mit ihrer Umwelt harmonieren. Der typische Denkfehler liegt darin, dass Schönheitsideale meist nur stereotype Kategorisierungen äußerlicher Faktoren sind, an denen wir diese Harmonie festzumachen versuchen. Vor allem aber sind wir Menschen keine Zustände, sondern als Organismen dynamische Prozesse. Deshalb ist „Schönheit“ ein Prozess, kein Faktum. Sie entwickelt sich, auch in Beziehungen. Deshalb gibt es auch keinen perfekten Lebenspartner, man kann nur in einer Partnerschaft zusammenwachsen und gemeinsam „schön“ werden. Viele Ehen scheitern daran, dass man sich auf Fakten oder historische Zustände reduziert und die Weiterentwicklung der Beziehung zu kurz kommt.

Ethos

Die „Kunst des schönen Lebens“ im Allgemeinen wäre die Fähigkeit, nicht esoterisch, sondern ganz praktisch, Handwerkstechniken für sein Wirken und Erleben zu entwickeln und umzusetzen, die uns solche harmonische Entwicklungen ermöglichen. Das ist dann eben keine Selbstoptimierung, kein Ego-Trip, sondern eher eine praktisch angewendete Lebensphilosophie, ein Ethos.

Ein solches Ethos brauchen wir, damit wir unser Leben als sinnvoll erfahren und die Erfahrung von Sinn ist die Voraussetzung für die Empfindung von Glück.

Über Martin Dühning 1522 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.