Die Bibel als Überlebenskonzept

Die Bibel als Sinngeber (Foto: Tima Miroshnichenk via Pexels)
Die Bibel als Sinngeber (Foto: Tima Miroshnichenk via Pexels)

Die westeuropäische Spätantike endete in einer Kulturkatastrophe, was von den betroffenen Menschen seinerzeit auch so erlebt wurde. In diesem Zusammenhang ist auch die große Bedeutung der Bibel im Mittelalter zu sehen.

Der Kultur tragende Aspekt von Religionen

Die Menschen der späten Moderne sind erfolgsverwöhnt, sodass selbst der individuelle Tod, der zu jedem Leben leider dazugehört, zum absoluten Ausnahmefall deklariert wurde. Krankheiten werden gerne als persönliches Problem angesehen, Misserfolg wird nur dem Einzelnen zugeschrieben. Dass aber sogar eine ganze Gesellschaft scheitern kann, unverschuldet, scheint in weite Ferne gerückt. Dabei ist das Scheitern von Gesellschaften historisch betrachtet der Normalfall. Ein Aspekt von Spiritualität, besonders bei den Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam ist, dass für sie Religion ein Grundkonzept ist, ein Vertrauen auf ein Getragensein durch den einen Gott („Faith“), um selbst größte Krisenzeiten zu überdauern. Entsprechend sind die heiligen Schriften auch als Überlebenshilfe gestaltet.

Dieser Kultur tragende Aspekt, den die Weltreligionen gerade in Zeiten von Krisen besaßen, wird heutzutage gerne vergessen. Da wird Religion eher aus der erfolgsverwöhnten Individualperspektive betrachtet („Welche Vorteile bringt mir das?“), die mangelnde Freiheit des Einzelnen kritisiert. Man beanstandet den Mangel an Originalität oder Individualität, den Zwang zur Konformität, der insbesondere durch die gesellschaftlichen und religiösen Eliten in der Zeit zwischen 400 n. Chr bis hin zur Moderne ausgeübt wurde. Das geschieht nicht ganz zu unrecht: Denn erst in den vergangenen 150 Jahren begann der kontrollierende Einfluss der Kirchen auf die Massen zu schwinden, entstand individuelle Freiheit, wurde die Demokratie allgemein-gesellschaftlich akzeptierte Form gesellschaftlicher Partizipation. Dies verdankt sich der Aufklärung (davor wurde allenfalls Republiken positiv rezipiert, die allerdings nicht notwendigerweise auch Demokratien waren, Religionsfreiheit gab es faktisch nicht).

Tatsächlich bedarf gerade die Demokratie aber auch einer gewissen kulturellen Kontinuität, um zu funktionieren, mithin auch eine gewisse Grundbildung. Da an Bildung in Krisenzeiten immer zuerst gespart wird, ist es wenig verwunderlich, dass man, nachdem die römisch-hellenistische Kultur durch Kriege, Hungernöte, Seuchen, Massenmigration und Klimakatastrophen unterging, in Europa demokratische Strukturen danach meistenteils vergeblich suchen kann. Doch ging nicht nur das Konzept „Demokratie“ in der Spätantike weitgehend unter. Vieles ging damals verloren, letztlich war die gesamte antike Gesellschaft in ihrer Existenz bedroht.

Die Idee einer christlichen Gesellschaft

Das bedeutet allerdings nicht, dass nicht doch Rettungskonzepte existierten. Eine einigermaßen krisenfeste Gesellschaftsutopie konstruiert Augustinus von Hippo, der das Scheitern des weströmischen Staates am eigenen Leib erfahren hat, in seinem monumentalen Spätwerk „De Civitate Dei“ mit seiner Idee vom „neuen Jerusalem“, einer „Stadtgesellschaft Gottes“, die den gescheiterten Realstaat zumindest ideologisch kompensiert. Westliche Historiker, besonders in Großbritannien, werfen ihm gerne vor, dass er damit dem römischen Reich und der „Freiheit der Antike“ den ideologischen Todesstoß versetzt hätte. Das stimmt so nicht: Tatsächlich trieben den Einwohnern Westeuropas die ständigen politischen Krisen und Kriege und später vor allem die überaus volksfeindliche Politik der byzantinischen Rückeroberer die Lust am römischen Reich aus.

Allerdings gibt Augustinus mit seiner dezidiert religiösen Gesellschaftskonzeption den spätantiken Gelehrten, welche in der großen Krise die Literatur retten mussten, entscheidende Impulse: Wenn alles scheitert, bleibt nur die Rückbindung an einen jenseitigen Sinnhorizont. Für Augustinus ist es die Lehre vom „neuen Jerusalem“, die er den Psalmen und der Offenbarung des Johannes (Apokalypse) entnimmt, in welcher das neue Jerusalem eher symbolische Bedeutung trägt, als wirklich ein Gesellschaftskonzept zu sein. Trotzdem ist seine Methode und der Verweis auf die biblischen Schriften für einen Gläubigen sehr naheliegend und gerade die Bibel eignet sich als „Überlebensratgeber“ vielleicht noch viel mehr als der später entstandene Koran oder auch die historisch älteren hinduistischen und buddhistischen Schriften: Denn gerade in der Bibel werden außergewöhnlich häufig Kulturkatastrophen thematisiert, im Alten Testament durch das Schicksal des jüdischen Volkes, aber auch im Neuen Testament durch die Erfahrungen der frühen Christen, die sich von Anfang an Verfolgung ausgesetzt sahen. Und genau das mag dann auch dazu geführt haben, dass sich das Christentum gegenüber anderen religiösen Strömungen durchgesetzt hat – und nicht etwa kirchliche oder kaiserliche Autoritären. Das Machtdemonstrationen der biblischen Botschaft sogar eher im Wege standen und der Glaubwürdigkeit des Christentums immens schadeten, kann man auch am überragenden Erfolg der islamischen Verkündigung gerade in den Regionen erkennen, die zuvor unter byzantinischer Autorität standen: Deren rigoros-juristische Lesart des Christentums ließ den Islam für die meisten Menschen wie eine Erlösung erscheinen.

Dass die Bibel mit ihren Lebenserzählungen viele Beispiele gibt, wie man Kulturkrisen und Katastrophen überleben kann, mag dann auch der Grund gewesen sein, dass man nach dem Kollaps im Westen gerade die Bibel als einen der wichtigsten Texte ansah, die es in die neue Zeit hinüberzuretten galt. Und zur Kulturrettung ließ man sich durchaus auch Neues einfallen: Es wird sehr oft unzureichend gewürdigt, welche große Leistung die Erfindung des Kodizes, also des gebundenen Buches aus Pergament, für diese Kulturrettung war. Wissen wurde hier gezielt, weg von der witterungsanfälligen und reparaturbedürftigen Papyrusrolle auf ein neues, viel haltbares Medium übertragen, was die Jahrhunderte besser überdauern konnte.

Allerdings hatte das einen hohen Preis, denn Pergament ist sehr kostbar und Bildung wurde so zu einem Luxus, der nur Eliten zugänglich war. Im Pergamentzeitalter war eine Schriftkultur für die Massen faktisch nicht mehr möglich. Wenn man dies nun allerdings bedauert bedenke man bitte: Welche Alternativen hätte es denn damals gegeben? Holzbasiertes Papier wurde in Westeuropa erst 800 Jahre später entwickelt, die alten Handelswege und damit auch der Zugang zu billigem Papyrus war erschwert und weil an Bildung – wie erwähnt – immer zuerst gespart wird, konzentrierten sich die zerfallenden Staaten auf ihr Überleben, militärische Vorherrschaft und überließen die Kulturrettung einigen wenigen Experten, zumindest im Westen.

Das Mittelalter und die Renaissance

In der Zeit der karolingischen Renaissance, also einige Jahrhunderte nach dem Kulturkollaps, konnten die Gelehrten um Karl den Großen bereits auf den Pergamentcodex als etabliertes Medium zurückgreifen und die Schriftkultur um einige Details (wie z. B. die karolingische Minuskel) verfeinern. Außerdem konnte man, basierend auf der Idee von Augustinus, daran gehen, die Kultur tatsächlich wieder neu aufzubauen, wie beispielsweise der Klosterplan von St. Gallen zeigt, der ein übrigens durchaus gelungener Versuch ist, die augustinische Idee einer antiken, jetzt aber christlich verstandenen Stadt, in die Praxis umzusetzen: Die großen mittelalterlichen Klöster, die diesem Planungskonzept folgen, sind insofern eigentlich Umdeutungen der antiken Polis. Und es ist durchaus sehr verkürzend, den Mönchen vorzuwerfen, sie hätten sich nur für biblische Inhalte interessiert. Mit im „Rettungspaket“ waren auch allgemeine Bildungskonzepte, die Übernahme und teils deutliche Verbesserung der antiken Medizin und Medikamentenlehre (z. B. durch Walahfrid Strabo) oder auch – oft erstmalig alltagspraktisch umgesetzte Technik (z. B. Bewässerungssysteme und Windmühlen). Großer Unterschied war, dass Bildungsinhalte nun fast immer auf Nützlichkeit abgeprüft und entpersonalisiert wurden. Das Idealtypische überformte den Einzelmenschen. Das schadet natürlich insbesondere der Kunst, die, wenn man das moderne Konzept von Kunst ernst nimmt, sich eigentlich nicht auf Nützlichkeit reduzieren lässt und an die Individualität des Künstlers gebunden ist. Aber auch die größten Kritiker des Christentums müssen zugeben, dass sich spätestens ab dem fränkischen Reich eine eigenständige westeuropäische Kunst – mit leider meist anonymen Künstlern – entwickelte, die spätestens ab der Gotik über die antiken Wurzeln hinauswächst.

Und selbst die Renaissance wäre in ihrem Selbstverständnis nicht verstehbar, wenn man ihre biblischen Bezüge weglässt. Freilich ist es eine große Leistung der Renaissance, dass sie den Mensch als individuelle Person wieder ins Zentrum rückt, während dies im Mittelalter eher unerwünscht war. Aber auch der Individualismus der Renaissance erfolgte letztlich im Rückgriff auf die biblischen Vorlagen, wo eigentlich eben fast immer das Schicksal von Einzelmenschen im Mittelpunkt steht, besonders bei den zeitlos überzeugenden Erzählungen. Dass sich Individualismus, die Bibel und das augustinische Konzept durchaus sinnig verbinden lassen, beweist dann ein halbes Jahrhundert später Martin Luther und in seiner Nachfolge schließen sich die meisten protestantischen Reformatoren und auch die katholischen Reformer dieser Haltung an.

Bibel als Lebenshilfe in der Moderne?

Die Aufklärung setzt schon entsprechende Akzente, aber erst ab dem 19. Jahrhundert betrachtete man Religiosität zunehmend als Privatsache. Sinndeutung verlagerte sich nun von den Kirchen als Traditionshüter hin auf eine ganz persönliche Ebene, auf der der Einzelne die Verantwortung für seinen Glauben trägt. Auch das ist übrigens ein grundbiblisches Verständnis, was sich bereits bei Paulus findet, nicht erst bei Luther. Bis allerdings die Gesamtgesellschaft in den Genuss echter Bekenntnisfreiheit kam, vergingen nach Luther noch mindestens vier Jahrhunderte. Denn letztlich war man selbst in den puritanischen Kolonien Nordamerikas nicht wirklich frei in seiner Religiosität. Auch hier diente die Bibel als Mittel zur Etablierung von Gesellschaft in einem oft feindlichen Umfeld (wobei es meist oft eher die Natur war, die der wahre Feind war).

Man kann sich natürlich fragen, ob sich dieses Konzept inzwischen endgültig überlebt hat in unseren modernen Zeiten. Selbst die Natur beherrschen wir scheinbar, Handel und Kultur sind global verfügbar. Jetzt gerade kann man auch ohne Religion ein relativ sorgenfreies Leben führen. Ob das so bleibt ist natürlich offen, wie es die Zukunft immer ist. Die Renaissance der Kirchen nach dem zweiten Weltkrieg hat aber gezeigt, dass religiöse Grundwerte auch in der Moderne noch tragfähig sind, besonders in oder nach großen gesellschaftlichen Krisensituationen. Auch die Corona-Krise ist da eigentlich kein Gegenbeispiel. Sie hat zwar die Korrosion kirchlicher Strukturen in Deutschland aktuell sicherlich beschleunigt, ist aber kein Beleg für einen Bedeutungsverlust der religiöser Botschaften, da ja zeitgleich evangelikale Strömungen oder auch neuislamische Bewegungen aufblühen. Die aktuellen Kirchenaustritte kennzeichnen er eine Strukturkrise der etablierten kirchlichen Institutionen, deren Akzeptanz in der Gesellschaft schwindet. Das heißt aber keineswegs, dass auch hier alles bröckelt. Die verbliebenen Kirchenmitglieder sind oft aktiver als die früheren „Taufscheinchristen“. Bei genauerer Betrachtungs ist selbst so manch „atheistische“ Ansicht kirchenferner Zeitgenossen eigentlich nicht perse eine Ablehnung spiritueller Haltungen, sondern eher Antiklerikalismus, welche Kirchenstrukturen als Machtfaktor ablehnt. Das mag vielleicht auch sehr gute Gründe haben nach den Erfahrungen der letzten zweitausend Jahre, wo sich christliche Kirche oft instrumentalisieren ließ für teils überaus fragwürdige Herrschaftssysteme. Nicht ignorieren dabei darf man aber, dass der christliche Glaube, vor allem auch der biblische – und nicht selten auch konkrete christliche Lebensbeispiele, und eben manchmal auch kirchliche Strukturen, immer wieder auch Orientierung und entscheidende Hilfe boten in Krisensituationen. Die christlichen Heiligen waren keine Wellness-Gurus, sondern Menschen, die mit christlichem Glauben teils extremen Lebenskrisen trotzten.

Ich persönlich denke nicht, dass wir Menschen des Jahres 2024 uns wirklich ausmalen können, was eine gesamtgesellschaftliche Katastrophe, seien es echte Seuchen oder auch Kriege, für den einzelnen Menschen wirklich bedeutet. Das wäre eine Krise, die wirklich die Grundfesten der Gemeinschaft erschüttert und die man dann auch nicht mehr medial ausblenden kann oder ignorieren. Wenn wir schon die Isolationsmaßnahmen von Corona, ein geringeres Wirtschaftswachstum oder kriegerische Auseinandersetzungen, die wir meist nur gefiltert aus den Medien kennen, als Grund für eine ausgemachte Sinnkrise betrachten, was wäre dann, wenn wirklich nicht nur einzelne, sondern ganze Gesellschaftgruppen um ihr Leben fürchten müssen?

Was, wenn wir Leid nicht mehr auf persönliches Versagen schieben können oder ignorieren, indem wir leidende Menschen einfach in Flüchtlingslager oder Pflegeheime „entsorgen“ können, damit sie unsere Konsumidylle nicht stören? Was, wenn wir nicht mehr konsumieren können, weil nicht mehr genug da ist und unsere Gesellschaftsutopie damit zusammenbricht? Wer kümmert sich um die Überlieferung dessen, was eine Gesellschaft ausmacht, wenn alle anderen nur noch mit dem bloßen Überleben beschäftigt sind?

Wenn die komplette Gesellschaft zusammenbricht helfen mir keine Psychotherapeuten. Auch Sozialhilfe steht nur solange zur Verfügung, wie es einen intakten Staat gibt. Und virtuelle Medien helfen nicht gegen reale Katastrophen, zumal gerade die neueste Technik sehr schnell nutzlos wird, wenn es keinen Strom mehr gibt.

Ich würde davon abraten, die gesellschaftliche Bedeutung von Religionen oder Kirche ganz totzureden. Wir werden sie irgendwann bestimmt wieder brauchen.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.