Leben im August

Rothaariges Mädchen (Matheus Bertelli via Pexels)
Rothaariges Mädchen (Matheus Bertelli via Pexels)

Augusttage, Augustsonntage, lassen verweilen im Dazwischen, in der Zeit der ruhenden Erde, wenn man sich ruhen lässt; wenn einem die Ruhe gelassen wird.

An solchen Tagen, Sonntagen der Seele, erinnert man sich mit Dankbarkeit dessen, was war, ohne in eine eilige Zukunft abzudriften, weil gerade in der Stille das Jetzt am präsentesten ist – denn dann sind wir wirklich wir selbst und nicht nur ein Schatten von Vorurteilen:

„Was vor uns liegt und was hinter uns liegt ist nichts im Vergleich zu dem,
was IN uns liegt. Und wenn wir das, was in uns liegt nach außen in die Welt tragen,
dann geschehen Wunder.“ – Henry Thoreau (1817-1862)

Das Dazwischen, das Zwielicht zwischen Zeitaltern, zeichnet eine besondere Natur aus: Es ist die spirituelle Stimmung jener Tage, die an längst Vergangenes gemahnen, wenn sonntags gegen Abend die Kirchenglocken erklingen, fein und aus der Ferne und zurückverweisen auf das, was in allem den Urgrund bildet. Die Zeit fließt dann unnatürlich ziellos, etwas zäher als sonst, in zwischenmenschlicher Stille, die ich zwischenzeitlich lieber suche als die Gesellschaft irgendwelcher Leute, weil mich die Beziehungen mit Menschen in meinem bisherigen Leben meist nur enttäuscht haben, sodass ich ganz mit Thoreau übereinstimme darin, dass man sich selbst vielleicht die beste Gesellschaft ist.

„Gesellschaft, selbst mit den Besten, wirkt bald ermüdend und zerstreuend. Ich bin unendlich gern allein. Noch nie fand ich den Gesellschafter, der so gesellig war wie die Einsamkeit.“ – Henry Thoreau (1817-1862)

Denn nirgends fühlt man sich einsamer und nutzloser als unter Leuten, denen man fremd ist und die einen wie das fünfte Rad am Wagen behandeln oder beständig nur wie einen NPC. So ist es besser, wenn der Menschen um mich herum nicht zu viele sind.

Erinnerungen an den 21. August 2013 - Tusche mit Aquarellstiften von Martin Dühning
Erinnerungen an den 21. August 2013 – Tusche mit Aquarellstiften von Martin Dühning

Das bedeutet aber nicht, dass man die kulturellen Errungenschaften nicht auch schätzen könnte – bei mir sind es Musik, Kunst und Literatur, vor allem aber die Musik. Sie findet einen Widerhall in meiner Seele.

Es war in Augenblicken wie diesen, in Augustmomenten, als ich, in einer seltenen Übereinstimmung zwischen Geist und Sinnlichkeit, einst „Roses of Eostre“ komponierte. Ein Lied, dessen Text nie irdisch wurde und nur im Universum der Ideen besteht. Dort ist er aber sicher vor den grausen Zeiten, die wiederkommen, wenn der Zauber des Spätsommers langsam erlischt und man sich wieder in die Masse der Fremden begeben muss.

Freilich gibt mir auch der August nur bruchstückhaft, was ich in meinem Leben vermisste, hauptsächlich, weil man mir zeitlebens nur Rollen zugedachte, die zu spielen ich keinerlei Lust hatte. Hämischerweise leben wir in einer Zeit, die sich für so aufgeschlossen hält und dennoch, statt Personalität nur Schubladen verherrlicht, in die man zu passen hat. Dabei sind Menschen nicht eindimensional, sondern vielfältig wie auch gebrochen: ein Prisma, ein Kaleidoskop. Mosaikenkunst dauert den meisten Menschen jedoch viel zu lange in einer Zeit, in der man nur Ergebnisse sehen will und über nichts nachsinnen. So muss man sich nicht wundern, dass statt Kunst nur flinke Spiegeltheater aufgeführt werden im Lande digitaler Echos, statt Seelenmusik nur Event-Lärm.

So ganz anders geben sich Augustsonntage, wenn die Karawane der Eitelkeiten abgezogen ist, wenn die Stunden stillzustehen scheinen, wenn die August-Augenblicke ungesehen stattfinden als stille, feinsinnige Feiern der Seele unter den grün-goldnen Baumtempeln, huschende Licht- und Schattenbilder zwischen den Zweigen, die nicht zur Medienwelt passen. Vielleicht liegt hier noch ein wenig Spiritualität – in der Ruhe dessen, was bleibt.

Manche würden diesen Luxus als Verschwendung bezeichnen – denn Stille scheint ja nicht produktiv. Doch es ist keine Zeitverschwendung, wenn Momente magisch sind. Es ist keine Langeweile, wenn Ruhe Tiefe hat, auch wenn die Tiefe teils in Moll gestimmt ist und leise fein, fein verklingt wie eine Cister im Sommerwind: Denn darüber ist ein weites, blaues Zelt gespannt, das in eine bessere Ferne ausgerichtet ist und wo sich nachts die Sterne versammeln.

Sterne sind kleine Sonnen, Sonnen, die nicht blenden. Man kann sie auch dann noch betrachten, wenn man selbst kein kleines Kind mehr ist, in einer Wiese liegend, wenn man sich nur das Herz bewahrt hat – und das ist keine Illusion. Denn das wahre Alter eines Menschen spielt sich in seinem Herzen ab. Dann ist es, als würde man noch wie ein Kind hoffnungsfroh die Zukunft erwünschen.

"Dreamers, not Fortune Tellers" (Grafik: Martin Dühning)
„Dreamers, not Fortune Tellers“ (Grafik: Martin Dühning)

In solchen Momenten kann man sich Wirklichkeiten erträumen anderer Welten, die nie Realität geworden sind noch jemals werden, Inhalte von aufgegebenen Löffellisten – doch die innere Wahrheit von Träumen und Idealen ist zumindest zeitlos.

Das kleine rothaarige Mädchen aus dem Pexels-Titelfoto von Matheus Bertelli, ganz oben in diesem Artikel, gibt es übrigens in der Realität: Ihr Name ist Kathleen Galvão und ihr Leben war seit der Foto-Aufnahme nicht leicht, da sie an ALL erkrankt ist, einer Form von Leukämie. Doch ihre Familie trägt sie mit Kraft und Gebet. Und wo Hoffnung ist, ist Leben. Und Leben erhält seinen Wert durch Tiefe.

Ich bewundere Menschen, die Tiefe haben,
solche und nur noch solche.

Über Martin Dühning 1489 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.