Endstation Vergessenheit

Man ist im Herzen jung (Foto: Edu Carvalho via Pexels)
Man ist im Herzen jung (Foto: Edu Carvalho via Pexels)

In all unseren – meist berechtigten – Sorgen um Datenschutz und das „Recht auf Vergessen“ vergessen wir oft, dass im Endeffekt alles vergessen werden wird. Denn die Zeit tilgt alles.

Katzen, so erklärte mir meine Tante in Waldkirch einst, haben kein so gutes Gedächtnis wie wir Menschen. Nach fünf bis sechs Jahren vergessen sie einen Menschen komplett – und so hätten mich Castor und Pollux, wie die beiden Katerzwillinge hießen, würden sie heute noch leben, auch längst vergessen, denn dies ist nun schon bald 25 Jahre her.

Allerdings funktioniert auch das Gedächtnis von uns Menschen oft nicht viel besser. Ja, wir haben Erinnerungen, auch über die Jahrzehnte hinaus. So bei etwa sieben Jahren liegt aber eine Erinnerungsquelle, bei der aus gelebter biografischer Erinnerung ein eher fiktionales Narrativ wird. (Es gibt viele Menschen in meinem Umfeld, da ist diese Zeitspanne noch viel kürzer.)

Manchmal, besonders bei Gerüchen oder in besonderer Atmosphäre, wenn die Luft um uns quasi wie seinerzeit leise knistert, spüren wir selbst nach vielen Jahren noch einen Hauch von echter Erinnerung, eingefrorene Augenblicke in der Zeit, doch wird das, was wirklich war, meist verdeckt von allerlei Fantasien, welche die historische Realität mit unseren Wunschvorstellungen, Ängsten oder anderen Gefühlen zu einem Gewebe von künstlichen Zusammenhängen verstricken, die in Wirklichkeit oft nicht existierten. Deshalb brauchen wir Fotos oder Gegenstände, „Reliquien“, als Hilfen, die uns vorgaukeln, wir wüssten wirklich noch, was war und die Vergangenheit sei noch in Teilen zugegen. Aber selbst wenn wir Tagebuch führen, was ich bisweilen tue, so lesen wir nach einiger Zeit unsere Texte wie Texte von Menschen, die uns irgendwie doch wie Fremde sind, weil wir selbst uns gewandelt haben und nicht mehr die gleichen Menschen sind wie seinerzeit. Im Rückblick sieht vieles anders aus, was daran liegt, dass wir uns ohne Möglichkeit zur Rückkehr durch die Zeiten hin wegbewegt haben in eine andere Realität. Die Vergangenheit ist ein Land, das auf immer verloren ist und in das wir nie mehr zurückkehren können, selbst wenn wir es wollten – und es gibt sicher durchaus gute Gründe, dies zu wollen, vor allem, wenn wir älter werden.

Je älter man wird, desto häufiger blickt man zurück, aber man blickt zurück nicht auf die wahre Vergangenheit, sondern auf eine biografische Fiktion. Unsere Erinnerung ist immer Gegenwart, scheint nur Vergangenheit. Oft wird aus dem, was wirklich war, eine rosa gefärbte Idylle, weil wir das, was war ja in jedem Fall überlebt haben, weshalb die von uns erdachte Vergangenheit aus unserer Sicht „sicherer“ war. Oder aber, wir verdüstern eigentlich gar nicht so dunkle Momente von damals, weil sich unsere Ansichten und Perspektiven gewandelt haben – und was wir heute ablehnen, kann damals sicher ja auch nicht gut gewesen sein, oder?

Deshalb kommt es vielleicht auch tatsächlich nicht so sehr darauf an, was uns damals wirklich begegnet ist, sondern vielmehr darauf, was es mit uns gemacht hat und besonders auch, wer wir im Leben gerade sind.

„Im Leben kommt es nicht nur darauf an, was einem geschieht, sondern wie man damit umgeht“, habe ich einst meiner Tante geraten, als sie mit ihrem Leben haderte. Diese Haltung vertrete ich heute, 25 Jahre und viele eigene Schicksalsschläge danach, immer noch. Aber heute achte ich nicht nur auf das Jetzt, sondern mehr auch auf die eigene Vergangenheit. Oft bin ich traurig über die Wunden, die man mir zugefügt hat. Aber ein wenig Stolz bin ich auch, dass ich es insgesamt doch bis hierhin geschafft habe.

Es ist der Stolz eines alternden Baumes, der zwar nicht mehr die Kraft und die Schönheit eines jungen Sprößlings besitzt, aber ein bisschen die Aura von innerer Geborgenheit. Und deshalb liebe ich auch alte Bäume so sehr, die mein Umfeld so verachtet. Sie sind für mich Symbole dafür, wie wir Menschen leben – in Ringen und Schichten und gegen alle Zeitalter und Wetter durch die Stürme, Sommertage und Winter des Lebens.

So lange, bis auch uns irgendwann die Zeit tilgt, wie alles andere – Endstation: Vergessenheit.

Über Martin Dühning 1527 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.