Ich schätze Weihnachtsmusik sehr, außer auf Weihnachtsmärkten – die ich des Alkohols wegen nicht erdulde – oder, wenn sie sich zu sehr öffentlich-rechtlichem Musik-Mainstream angleicht, mithin ebenso betüdelt.
Weihnachtsmusik und Weihnachtsbotschaft
Ein tiefer Schauder – aber kein positiver – durchfährt mich jedes Mal, wenn ich einen allzu braven Weihnachtsknabenchor höre. Beim Ästheten in mir löst das fast die gleichen Fluchtreflexe aus wie bei sogenannter „Volksmusik“ (nicht zu verwechseln mit echter Folklore). Sopraniges Geschmier, vorgetragen von achso biederen Knäblein, wächst sich in meinem Kopfkino zu einem Horrorszenario aus, denn vor meinem inneren Auge sehe ich den Chor mit einstmals authentischen Menschen zu stereotypen Wachsfigürchen verkümmern und den eigentlich sakralen Raum zu einer knackenden schwarzen Schellackplatte degenerieren, hinab driftend in eine irgendwie trübe, schwarzweiße und zutiefst verlogene BRD-Vergangenheit voller Lametta, Knistern und Rauschen, zu einer Zwangsveranstaltung, bei der jederzeit Backen kneifende alte Tanten aus einer Ecke springen könnten und über die feinsäuberlich aufgereihten Kinderpüppchen herfallen, die für das Publikum wie Weihnachtspräsente zurecht geputzt wurden, als goldene Engelchen, Opium des Volkes.
Es gibt Leute, denen das viel bedeutet. Solcherlei Musik ist für sie ein notwendiges Requisit für ihr Weihnachtsfest, so wie vergoldete Engelchen, blinkende LED-Ketten und geschmückte Nadelbäume. Ist das alles, hat das dann allerdings nicht mehr viel mit der Botschaft des Evangeliums zu tun, man huldigt dann letztlich nur der ewig gierenden Konsumgesellschaft, dem Abgott Mammon. Das Fest der Heiligen Familie? Man feiert sich letztlich selbst: Es ist alles eitler Weihnachtsglitzer, mit dem man das schlechte Gewissen über all die ungelösten sozialen Probleme und Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft für einen goldigen Abend lang öffentlich einschläfert.
Das verärgert den Theologen in mir sehr, der besonders das Lukas-Evangelium eher als Kampfansage an die opportune Welt ansieht. Weihnachten symbolisiert für einen Christen den Anbruch des Reiches Gottes für alle Menschen, nicht das Fest der Konsumtempel und ihrer Besitzer.
Deshalb halte ich mich eigentlich von solcherlei kommerziellen Veranstaltungen fern und ebenso von den theologisch wie psychologisch fragwürdigen Projektionen innerlich vergreister Kirchenbesucher. Knabenchöre sind mir generell eher suspekt. Denn Kinder sind keine Engelswesen und sie zu solchen zu idealisieren, kann zu nichts Gutem führen. Ich habe als Kind lange und sehr gerne in einem Chor gesungen, der Kantorei Hochrhein, aber es war ein gemischter Chor aus individuellen Kinderstimmen und das finde ich auch gut so. Vor allem aber war unser Chor keine rein ästhetische Veranstaltung zur Zuhörerbespaßung, sondern auch eine Form gelebten Christentums. Auf das Mitsingen kam es an!
Echte Weihnachtsmusik ist für mich bis heute vor allem ein persönlicher spiritueller Vollzug, somit tendiere ich eher zu Kammermusik, oder, wenn es denn konzertant sein muss, wenigstens bitte mit ein wenig jazziger oder frühbarocker Lebendigkeit bereichert, gerne auch in Dänisch, Gälisch oder Norwegisch, vielleicht sogar Finnisch, damit mich die allgemein bekannten Chortexte nicht langweilen. Oder aber, man spielt wenigstens Praetorius, Bach oder einen anderen wirklich guten Klassiker. Johann Sebastian Bach verstand wie kein anderer: Die Weihnachtsbotschaft sollte Leben, Freude und Kraft vermitteln!
Jesus bleibet meine Freude…
Im Übrigen mag ich eigentlich auch reine Männerstimmen nicht, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, und eine davon ist Benjamin Appl. Von ihm besitze ich eine Bach-CD und darauf findet sich seine Variante des Bachchorals „Jesus bleibet meine Freude“ aus Bachs Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“, BWV 147, von der auch ein offizielles Video auf Youtube existiert. Dieser musikalische Vortrag, aber auch, wie der Bariton Benjamin Appl, mit viel Optimismus in seinen Augen, den Choral optisch intoniert, beeindruckt mich immer wieder. Er vermittelt Freude, die fast ansteckend ist. Auch die instrumentelle Begleitung durch das Concerto Köln übermittelt noch Frische, wie sie gerade Weihnachtssendungen sonst meist vermissen lassen. Auf seinem Bach-Album bildet der Choral den Abschluss. Bei mir läuft dieser Titel Nr. 19 oft solo in Dauerschleife.
„Jesus bleibet meine Freude“ ist auch eine Losung, mit der ich sehr gut leben kann. Man kann den Choral zudem nicht nur zur Weihnachtszeit hören – denn er konzentriert christliche Haltung für ein ganzes Leben.
The Christmas Album (2024)
Als ich nun hörte, dass Benjamin Appl im Winter 2024 ein neues Weihnachtsalbum veröffentlicht, war ich einerseits skeptisch, andererseits aber auch neugierig. Skeptisch war ich, weil es bei jedem deutschen Künstler nur eine Frage der Zeit ist, bis er von seiner Plattenfirma zur wohl obligatorischen Weihnachts-Einspielung gedrängt wird. Neugierig war ich, weil ich nach einem ähnlich inspirierenden Vortrag des Baritons suchte wie auf der Bach-CD, der bei mir, wie schon erwähnt, bleibenden Eindruck hinterlassen hat.
Nun, ich hätte vielleicht skeptischer bleiben sollen. Die CD „The Christmas Album“, gleichwohl auch auf ihr Benjamin Appl mit seiner klaren Bariton-Stimme brilliert, neigt sich allzu sehr den bei mir Schrecken auslösenden Klängen einer Mainstream-Weihnachten zu, wie sie all die Jahre wieder in den öffentlich-rechtlichen Anstalten ausgestrahlt wird: Die Regensburger Domspatzen klingen auch in der Version 2024 für mich allzu brav und zurecht gestriegelt, dem Münchner Rundfunkorchester fehlt ebenjene akustische Präsenz und Kernigkeit, die das Concerto Köln in kleinerer Besetzung auf der Bach-CD sicherstellte, teilweise hängt das auch mit der Tonabmischung der Weihnachts-CD zusammen, die Orchester wie Chor in klassischer Manier in die Ferne rückt und damit aber auch entkräftet. Teilweise werden die Stücke allzu getragen, ruhig und langsam vorgetragen, sodass einige Titel durchaus einschläfernd wirken. Leider auch dann, wenn es eigentlich keine Schlaflieder sind. Hier wird ein wenig zu offensichtlich versucht, süße Weihnachtsstimmung zu erzeugen.
Die Auswahl: 24 traditionelle und klassische Stücke mit europäischer Reichweite
Die Stückauswahl von insgesamt 24 Titeln nimmt immerhin auch europäische Stücke verschiedener Epochen und in verschiedenen Sprachen ins Visier – aber insgesamt ist mir das Album zu brav und vorhersehbar. Ebenjene Lebendigkeit und Präsenz, die Benjamin Appls barocke Bachinterpretationen liebenswert machte, lässt das Weihnachtsalbum oft vermissen, mir fehlen auch echte Soli jenseits von Appl, die den einzelnen Stücken eine persönliche Note gegeben hätten. Selbst das Duett im „Abendsegen“ von Nr. 18 gelingt nur, weil sich Benjamin Appl gegenüber dem sehr filigranen Sopran von Ilias Grau sehr zurücknimmt. Immerhin passt das dann aber auch zum Duktus des Stücks.
Durchaus interessant ist, dass man den weniger bekannten Titel „Le Noël des Oiseaux“ von Cécile Chaminade (1858-1944) für das Album ausgewählt hat. Diese französische Pianistin und Komponistin sprengt den Horizont von Mainstream-Alben, das darauffolgende Stück „Jul, Jul Strålande Jul“ von Gustaf Nordqvist ist in den letzten Jahren dagegen zu einem geläufigen Titel avanciert, Appl bemüht sich wie gewohnt um eine akurate Aussprache, man merkt aber schon teils, dass er nicht wirklich Norwegisch kann („stroh-lande Jül“). Bei den mit von ihm selbst ausgewählten Dialektstücken wirkt er sehr viel authentischer.
In einem Interview mit BR-Klassik vom 13.11.2024 erläutert Benjamin Appl gegenüber der Interviewerin Rita Argauer, wie er zu Weihnachten steht und dass er Weihnachtslieder in seiner Kindheit gerne mit seiner Mutter mit Gitarre gesungen hat. Tatsächlich würden viele der sinnig ausgewählten Titel sehr viel überzeugender, sinnlich dichter wirken, wenn sie mit einer deutlich reduzierten Begleitung, durchaus auch nur mit Gitarre, umgesetzt worden wären. Das gelingt beispielsweise bei Nr. 11 „Geh, Hansl, pack dei Binggerl zaam“ – wo tatsächlich Hausmusik-Feeling aufkommt. Der letzte Titel des Albums, die Nr. 24 „Stille Nacht“, greift dann tatsächlich zu Beginn auf nur Gitarre und Appls Sologesang zurück, bevor danach, sehr zurückgenommen, im zweiten Part die Regensburger Domspatzen A capella zum Tragen kommen. Das passt dann endlich für eine kurze Weile! Der darauf folgende dritte Part von „Stille Nacht“, der dann als Tutti das Münchner Rundfunkorchester einbringt, ist dann jedoch wieder des Guten zuviel – wieder zuviel, weil das auch bei anderen Stücken so wirkt. Das Symphonieorchester und der große Kinderchor sind für die sinnlichen Titel oft überdimensioniert, wodurch die Lieder an Persönlichkeit einbüßen.
Auch muss man leider feststellen, dass die Regensburger Domspatzen der markanten Baritonstimme Appls vom Niveau her nirgends das Wasser reichen können. Damit verkommen sie nicht selten zu musikalischen Statisten, zu Begleitinstrumenten, was insofern schmerzlich ist, als Appl selbst als Kind Teil des Ensembles war, das er nun sehr deutlich überflügelt. Die persönliche Bezüge Appls erklären vielleicht, warum man sich überhaupt für die Regensburger Domspatzen entschieden hat, ein gemischter Kinderchor mit etwas modernerem Ansatz und individuellen, vor allem aber stärkeren Einzelstimmen hätte klangfarblich nämlich besser zu Appls kerniger Stimme harmoniert.
Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Die Regensburger Domspatzen artikulieren klar, wirken sehr gut eingespielt, doch sie sind sicher keine Opernsänger – dazu sind sie zu sehr auf homogenen Chorgesang abgestimmt. Und gerade weil sie in Richtung Knabenchor und Konformität getrimmt wurden, mangelt ihnen auch die persönliche Note. So fehlt der oft geradezu dominanten Stimme Benjamin Appls ein adäquates Gegengewicht. Vermutlich wurde man sich dessen während der Aufnahme bewusst, weshalb einige Chorstücke solistisch umgearbeitet wurden, womit man zu vermeiden sucht, dass der brave Knabenchor direkt mit dem sehr starken Bariton konkurrieren muss. Denn wo das geschieht, hören sich die Chorknaben sehr blass an.
Umgekehrt bedeutet das aber: Ohne Benjamin Appls Solos und A capella (ohne das Rundfunkorchester) klingt der Knabenchor deutlich überzeugender (wie z. B. in Nr. 21 „In Dulci Jubilo“). Denn nur dann hat man als Zuhörer die Chance, die Nuancen im Chor herauszuhören.
Das Album als ein Wiedersehen mit dem eigenen Knabenchor
Wahrscheinlich fährt man am besten, wenn man das Album dahingehend würdigt, dass mit dem Weihnachtsalbum Benjamin Appl biografisch bewusst an seine eigenen Wurzeln anknüpft, also „nachhause heimkehrt“: Ein inzwischen weltbekannter Starsänger macht sich auf den Weg zu seinen Choranfängen zurück, ein „Treffen der Generationen“ – gemeinsam erstellt man dann ein Weihnachtsalbum, professionell unterstützt vom Münchner Rundfunkorchester.
Diesen Eindruck möchte auch das Booklet erwecken, wo man auf Fotos einen sehr glücklichen und sichtlich gerührten Benjamin Appl sehen kann, der seinen ehemaligen Knabenchor wiedertrifft. Auch die persönliche Widmung, die Benjamin Appl dafür verfasst hat, geht in diese Richtung und mit Freude habe ich gelesen, dass aus der Perspektive Appls bei seiner Sängertätigkeit in Kindertagen ebenfalls die aktive Praxis und das karitative Engagement des Chors im Vordergrund stand, z. B. bei Gefängniskonzerten (was ich auch aus meiner Chortätigkeit in Waldshut so kenne).
Seine Zeit als Regensburger Chorknabe hat Benjamin Appls Lebenslauf also bleibend mitgeprägt. Somit vergegenwärtigt das Album aber vorrangig biografische Erinnerungen des Solisten, was wichtiger erschien, als musikalisch neue Akzente zu setzen.
„Mit all diesen emotionsstarken Erfahrungen machte ich mich im Januar 2024 in meine alte Heimat auf, um mit „meinem“ Knabenchor und dessen Domkapellmeister Christian Heiß dieses Album aufzunehmen, das mir persönlich sehr viel bedeutet. Als ich plötzlich, nach über zwanzig Jahren wieder in den Reihen des Chores stand und den mir vertrauten Klang hörte, überwältigten mich viele Gefühle und Erinnerungen, welche mir Tränen in die Augen trieben. […]
Unser aller gemeinsames Album ist der Versuch, die Magie von Weihnachten mit uns vertrauter Musik einzufangen und das kindliche Staunen wieder zu durchleben. Das gemeinsame Singen und Hören von Weihnachtsliedern ist für mich der schönste Weg die Freuden des Festes zu erleben.“
– Benjamin Appl im Booklet zu „The Christmas Album“ (2024)
Wo wir gerade bei Gefühlen und Erinnerungen sind: Am besten hat mir übrigens der zweite Titel des Albums gefallen, „Ja, es sollen wohl Berge weichen“ aus Felix Mendelssohn-Bartholdys berühmtem „Elias“ – hauptsächlich, weil mich das an meine eigene Chorzeit erinnert und weil die Friedensbotschaft daran so wunderbar in den Winter 2024 passt, dass man sie eigentlich als Banner in allen Städten der Welt aufhängen sollte:
„Ja, es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
aber deine Gnade wird nicht von mir weichen,
und der Bund deines Friedens soll nicht fallen.“
– aus „Elias“, nach Jesaja 54,10
Bei diesem Titel stimmt dann aber auch die voll-konzertante, grundsätzlich eher weich spielende Orchesterbesetzung des Münchner Rundfunkorchesters – die melancholische Oboe umspielt den Bariton Appls perfekt. Bei den beiden Titeln aus Bachs Weihnachts-Oratorium (Nr. 7 und Nr. 8) kehrt Appl vorübergehend zu alter Lebendigkeit und Kraft zurück. (Sehr bezeichnend ist, dass hier auf den Knabenchor verzichtet wird.)
Fazit und Ausblicke
Ob es sich gelohnt hat, das Album dieser drei Titel wegen zu kaufen, sei dahingestellt. Immerhin, handwerklich ist die Einspielung rundweg solide gemacht und die Titelauswahl zeigt Kulturwissen. Die biografischen Hintergründe berühren. Aber mir persönlich wirkt es, wenn man die biografische Note weglässt, immer noch zu vorhersehbar, zu wenig individuell, und teilweise arg betüdelnd. Meiner Vorstellung von der Weihnachtsbotschaft entspricht das so nicht unbedingt. Zu später Stunde über die Weihnachtstage, oder wenn man nicht einschlafen kann, mag das Album aber auch für sich sehr nützlich sein.
Sehr empfehlen kann ich aber weiterhin Benjamin Appls Bachinterpretationen auf seinem Album „Bach“ von 2018. Denn diese wecken die Lebensgeister.
Auch fände ich es sehr vielversprechend, wenn es künftig von Benjamin Appl mehr aus dem „Elias“ zu hören gäbe. Ein weiteres, sehr dankbares Feld wäre es, wenn sich Benjamin Appl vielleicht einmal eine Kantate von Philip Stopford vornimmt. Dessen „In My Father’s House“ mit dem bekannten Stück „There is No Rose“ würde stilistisch und inhaltlich zur symphonischen Ausrichtung Appls in Kombination mit Kinderchor passen – und die von Stopford-Werken vorhandenen Einspielungen der BBC sind handwerklich leider eher missglückt. Ich wäre froh, wenn es das in der Qualität gäbe, wie sie Appls Team bei seinem aktuellen Album hinbekommen hat.
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